Eigentlich wollten wir Marcel Dettmann bei den Autoscootern treffen. Eine gute Stunde vor seinem DJ-Set beim Sónar-Festival in Barcelona. Doch das Gelände ist gigantisch und verschachtelt und es wuselt vor Menschen im Party-People-Modus. Das Finden gestaltet sich schwierig: 69.000 Menschen sind laut Veranstalter am Freitagabend hier in einem der größten Messe-Areale Europas. Es wirkt ein wenig so, als hätte man einen abgedunkelten Flughafen samt Terminals, Hangars und Outdoor-Flächen und (wie gesagt) Kirmes-Autoscooter in eine Wahnsinnspartyzone verwandelt, aus der man auf keinen Fall wieder rausfinden sollte.
Wir befinden uns kaum zwanzig Busminuten südwestlich des Stadtzentrums von Barcelona. Doch mit der Gemütlichkeit einer niedlichen Tapas-Bar, in der man tiefenentspannt am Tempranillo nippend Tortilla, Ziegenkäse und Pimientos ordert, hat all dies hier herzlich wenig zu tun. Willkommen auf dem Sónar, einem der größten und bedeutendsten Musikfestivals der Welt. Ein langes Wochenende Rave und Avantgarde. Björk, Stockhausen und die Pet Shop Boys haben hier schon gespielt. Kraftwerk, Terry Riley und Steve Reich. Und nun zum 30-Jährigen gönnt man sich Stars wie Fever Ray, Little Simz und Max Cooper im Line-up. Und Aphex Twin, der den Freitagabend mit audiovisuellem Überwältigungsbombast samt Showlasern einläutete wie ein Klangdonnergott.
Also Plan B im vollen Haus: Wir treffen den Berghain-Resident-DJ Marcel Dettmann backstage auf seiner Bühne, kurz vor ein Uhr Nacht. Nur wenige Minuten, bevor er sein Set beginnt, gemeinsam mit seinem DJ-Kollegen Kristian Beyer (eine Hälfte des House-Duos Âme). Marcel Dettmann. Mehr Resident, mehr Berliner Techno-DNA geht kaum. Noch können die vielen Hundert Fans, die einen der begehrten Plätze vor der Sonarcar-Stage ergattern konnten, einer Art Techno-Zirkuszelt (oder: Sound-Stierkampf-Arena), DJ-Maestro Marcel Dettmann hinter dem blutroten Vorhang nicht sehen. Dettmanns schwarz-weiß gemustertes Outfit hat etwas von den gewieften Spielkarten-Charakteren aus „Alice im Wunderland“. Er strahlt, reicht die Hand: „Hat ja prima geklappt!“ Meint er das ernst?
Ja, Dettmann freut sich offenkundig, endlich wieder hier zu spielen. Sein erstes Mal Sónar seit 14 Jahren. Und dann auch noch back-to-back (B2B, wie man im DJ-Fachjargon sagt) mit seinem Kollegen Kristian Beyer. „B2B ist besonders spannend“, sagt Dettmann, „wenn man mit einem Profi wie Kristian zusammen spielt, der elektronische Tanzmusik liebt.“
Wie soll das überhaupt gehen, dass zwei Menschen gleichzeitig auflegen? Noch dazu zwei, die für fast schon komplementär kontrastierende Spielarten von Techno stehen? Beyer, der groovige Tanzboden-Melodiker, und Dettmann, der Düster-Techno-Industrielle? „Man nähert sich dann immer an“, verrät Dettmann. „Der eine ist ein bisschen langsamer, der andere ein bisschen schneller. Einer ein bisschen härter, der andere etwas softer. Das macht total Spaß, auf den Partner zu reagieren.“ Abgesprochen haben sie sich nicht, wer was mitbringt („Machen wir nie!“). Tollkühn, diese Profi-DJs!
Barcelona ist für Dettmann eine „tolle, aufregende Stadt“, sagt er, er hat diesmal sogar die Familie mitgebracht, was längst nicht immer geht bei seinem Weltenbummler-Jetset-Job. Seine Frau ist auch backstage dabei in dieser Nacht in Barcelona. Die Kinder schlafen schon im Hotel. Hoffentlich. Von ein Uhr bis sechs Uhr nachts ist Dettmanns Set angesetzt. Tagsüber hat Familie Dettmann bereits eine Bustour unternommen, klassisch touristisch. Die Kinder würden die Gaudí-Gebäude lieben, erzählt Dettmann und klingt trotz tosenden Publikums auf der anderen Seite des Vorhangs wie ein ganz normaler Familien-Papa. Na ja, fast.
Diesen Festivalsommer hat sich Dettmann schon gut heiß gespielt, quer durch Europa, sogar auf Daytime-Strandpartys, die so gar nichts von seinem berühmten Berliner Arbeitgeber, dem Berghain, haben. Trotzdem ist jeder Ort, auch die Sónar-Bühne, neu. Soundchecks gibt es vor DJ-Sets meist nicht. „Man braucht erst mal, um die Anlage kennenzulernen“, gesteht Dettmann. „Wie funktioniert die, wie klingt die? Manchmal sind die Monitorboxen zu schrill, zu laut – dann musst du optimieren mit den Technikern. Das dauert eine halbe Stunde und dann läuft es.“ Dettmann schiebt ein leicht bedrohliches „Für gewöhnlich“ nach.
Gleich muss er raus auf die andere Seite des Vorhangs. Er geht schnell noch mal pullern im garantiert glamourfreien Backstage-Dixi-Klo. Fünf Stunden klingen nach einer harten DJ-Nachtschicht. „Eigentlich können fünf Stunden auch so schnell vergehen wie zwei oder wie eine“, sagt Dettmann. „Mit Kristian funktioniert es immer super. Ich glaube, das wird heute gut flutschen.“ Sagt er und steigt zur Freude der Fans auf die Bühne. Und tatsächlich: Dettmann und Beyer gehen in ihrem B2B-Set einander an wie zwei junge verspielte Sound-Stiere. Jeder mit seinem Klang-Geweih. Kein Kampf, nur ein Spiel für die Nacht.
Sónar-Festival in Barcelona: Mit Honey Dijon in der Gay-Sauna
Gegen drei ziehen wir trotzdem weiter: Selbst wenn man auf diesem Sónar nur die Performances der prominentesten Berliner Acts mitnehmen wollte, hätte man schon gut zu tun: Peggy Gou, die aus Südkorea stammende Superstar-DJ, die gerne Tracks von Yellow Magic Orchestra (dem „japanischen Kraftwerk“) ineinandermischt mit solchen des Synthesizer-Pop-Pioniers Patrick Cowley, spielt in dieser Sónar-Nacht fast zeitgleich mit der House-Ikone Honey Dijon, die inzwischen eine eigene Partyreihe im Berghain betreibt und auch am jüngsten Beyoncé-Album mitgeschrieben hat.
Das Publikum in den ersten Reihen bei Honey Dijon wirkt gegen vier Uhr in der Nacht tatsächlich wie frisch der Gay-Sauna entstiegen, wippt, wenn auch nur halb nackt, im House-Groove. Fächer, Wangenglitter, Jungs und Männer, die viel beim Bankdrücken waren. Dijon umarmt in ihrem Set den 2017er-Hit „Bodak Yellow“ von Cardi B gleichermaßen wie das 20 Jahre ältere „Ecuador“ von Sash.
Dass sich im Sónar-Programm so viele Berliner Acts finden, ist kein Zufall. Auch solche der experimentelleren Sorte wie Perera Elsewhere oder Lucrecia Dalt. „Ein Drittel unseres Line-ups lebt in Berlin“, sagt Enric Palau, als wir ihn auf dem Festival treffen. Er ist einer der drei Gründer des Festivals Sónar. Sein Team, sagt Palau, sei viel mit Agenten und Labels in Berlin in Kontakt. „Und wir beobachten sehr genau, was die Szene dort an Festivals hervorbringt: was in Berlin auf dem CTM und auf dem Atonal-Festival passiert.“ Berlin als Inspiration für Barcelona.
Enric Palau wirkt glücklich, stolz und enthusiastisch. Wenn man mit ihm über 30 Jahre Sónar spricht, klingt es nicht nach Großraumtechno. Er schwärmt von der Project Area unweit der Plaza de España, wo tagsüber beim Sónar neben Panels zur Zukunft der Musik(-Industrie) auch eine Art Erfinder-Ausstellung stattfindet: Dort präsentiert sich etwa die Berliner App Nephogram (die CO2-Emissionen unserer Fotos in den sozialen Medien misst) oder die Berliner Firma Playtronica, die eine Art Midi-tauglichen Loop-Soundcomputer in Gestalt eines Plattenspielers mitgebracht hat. In der Project Area kann viel Technologie betrachtet, bestaunt und ausprobiert werden. Modulare Synthesizer schrägerer Bauarten etwa. Und Projekte mit Künstlicher Intelligenz. „Unsere Acts und unser Publikum sind per se sehr offen für Technologie“, sagt Enric Palau. „Das bringt das Electro-Genre mit sich.“
Doch dann macht Palau gleich eine Einschränkung: Technologie, die bloß imitiere, was Menschen sowieso schon können, interessiere ihn dann doch nicht so sehr. „Ich fände es viel aufregender, wenn die Künstliche Intelligenz uns neue Werkzeuge an die Hand gibt, sodass kreative Menschen etwas gänzlich Neues generieren können, auch in der Musik. Etwas, bei dem man sagen würde: Wow, so was habe ich im Leben noch nicht gehört.“ So, wie das in der Vergangenheit bereits nach der Erfindung von Synthesizern, Drum-Computern und Autotune-Software geschah.
Sónar-Festival-Gründer: „Berlin ist für uns ein komplizierter Fall“
1994, als die Sónar-Leute mit dem Festival begannen, gab es in Barcelona, so erinnert sich Palau, keinen Ort, an dem Electro-Avantgarde mit Techno-Rave und Acid-House zusammengekommen wären. „Wir wollten einen solchen Ort erschaffen.“
Skepsis gab es damals durchaus: Was machen diese schrägen Sónar-Leute da? Kritik kam sowohl von Electronica-Fans, die aus dem akademischen Kontext kamen, und die Vorbehalte gegenüber funktionierender Tanzboden-Mucke hatten. Aber andererseits auch von Ravern, die nicht besonders viel Bock auf Experimente hatten. Da haben die Sónar-Leute Barrieren aufgebrochen. „Und wir stehen immer noch fürs Entdeckertum“, verspricht Palau.
Mittlerweile gibt es Ableger des Sónar-Festivals in vielen Städten: London, Lissabon, Tokio, São Paulo, Istanbul, Hongkong. „Aber Barcelona bleibt das Mutterschiff“, sagt Palau. „Die Stadt und wir sind sehr verbunden.“ Er verweist Barcelona als Kulturstadt – mit dem Architekten Gaudí als „experimentellem Künstler“. Für Barcelona ist das Sónar aber auch ein Wirtschaftsfaktor: Mehr als 100 Millionen Euro Umsatz bringt das Festival für die Region mit sich, jährlich. Auch Hotels und Gastronomie profitieren: Wer hierher aufs Festival kommt, hängt meist noch ein paar Tage dran.
Wäre Berlin nicht auch ein passender Ort für einen Ableger des Sónar-Festivals? „Berlin ist für uns ein komplizierter Fall“, gesteht Palau. „Einerseits ist Berlin für uns die Stadt, zu der wir künstlerisch die engste Bindung haben, ganz klar. Von Anfang an haben bei uns viele Berliner Acts gespielt, von Modeselektor bis Alva Noto und viele vom BPitch-Label. Aber vermutlich wären viele Berliner, die liebend gerne fürs Sónar nach Barcelona kommen, eher enttäuscht von einem Berlin-Ableger. Da würde Barcelona fehlen: die Stimmung, das Klima, das Meer.“
Diese Kombination aus Mittelmeeresbrisen-Charme und musikalischer Relevanz garantiert seit vielen Jahren, dass Menschen aus aller Welt anreisen. Auch viele aus Amerika. Und da sie schon einmal hier sind, kommen andere Events hinzu: Business-Events wie etwa vom Elektronikhersteller Pioneer, der 2023 mit seinem neuen Beatport-Turntable das Auflegen per Streamingservice revolutionieren will. Vor allem aber steigen viele Partys rund um das Sónar. Böse könnte man sagen: Trittbrettfahrer. Oder positiver: Synergien-Finder.
Alles, was nicht offiziell zum Festival gehört, nannte man früher Off-Sónar. So, wie man in New York die Indie-Theater, die nicht am Broadway liegen, Off-Broadway nennt. In Barcelona sind diese Off-Sónar-Events nicht minder wichtig als das Kernfestival. Seit fünf Jahren ist das Off-Sónar nun sogar offizieller Partner, Schwesterfestival des eigentlichen Sónar-Festivals. Der Vibe auf beiden Festivals ist durchaus verschieden. Marc Sanchis, Projekt-Manager beim Off-Sónar, erklärt es uns so, als wir ihn auf seinen Partys auf dem Poble-Espanyol-Hügel treffen: „Das Sónar ist etwas mehr Underground und Musik der Zukunft“, sagt er. „Beim Off-Sónar spielt die Musik der Gegenwart.“ Aber auch hier gilt, wie beim Sónar: „Berlin fühlen wir uns ganz besonders verbunden. Unser Line-up ist prall gefüllt mit Berliner Talenten.“

Etwas arrivierter ist das Off indes und mehr Rave. Auf drei Bühnen: Die Plaza Mayor ist ein monumentaler Arkadenplatz, in den 1920ern erbaut im Stil eines historischen spanischen Kleinstadtzentrums. Die Bühne am Monasterio (Kloster) ist überschaubarer, intimer und besonders beeindruckend, wenn man eine Schwäche für postkartenreife Sonnenuntergänge hat. Auch mit prima Aussicht auf die Stadt, denn das Kloster liegt am höchsten Punkt des Hügels. Die Bühne von Carpa & Picnic hat einen industrielleren Look. „Aber es ist nicht so, dass wir auf jede Stage nur ein bestimmtes Sub-Genre programmieren würden.“ Da wollen sie sich möglichst große Freiheit lassen.
Romy vom britischen Pop-Trio The xx findet da mit ihrem zwischen Melancholie und Euphorie schillernden Disco-House-Set genau so gut Platz und Anklang wie die düsteren Hardcore-Technojünger von Unreal, die hier schon tagsüber die Nacht auffalten. Die Unreal-Jungs (Callush, Culltro, Johannes Schuster, Kobosil, Somewhen), die eine Art Gothic-Variante vom Berghain zelebrieren, kommen übrigens ausnahmsweise mal nicht aus Berlin, sondern aus Köln. Aber auch Köln fühlt sich, wie Berlin, am Meer ein wenig sorgenfreier, besser an. Sogar wenn man zu Düstertechno tanzt.








