Festival

Berliner Techno-Acts auf dem Sónar Lissabon: Heißspielen für den Festivalsommer

Viele Berliner elektrisieren beim Sónar in Portugal: Sofia Kourtesis, Peggy Gou, Acid Pauli, Cinthie, Héctor Oaks, Patrick Mason, Cormac. Wir haben sie begleitet.

Die Berliner House-Produzentin Sofia Kourtesis legte am Eröffnungsfreitag auf dem Sónar auf.
Die Berliner House-Produzentin Sofia Kourtesis legte am Eröffnungsfreitag auf dem Sónar auf.Pedro Francisco

Wenn Oleksii die Hände beim Tanzen nach oben wirft, sieht es so aus, als würde er eine ganze Schmetterlingsfamilie flattern lassen. Wir sind auf dem Sónar-Festival in Lissabon. Es ist Freitagabend, kurz vor Mitternacht. Drinks von der Bar will Oleksii gerade nicht: Er hat schon gut Kokain gezogen. Und er tanzt auf die südamerikanisch angehauchten House-Tracks, die die Berlinerin Sofia Kourtesis gerade auflegt. Auch Kourtesis hat, zur Freude der Tanzenden in der Halle, Spaß am Headbangen. Aber Oleksii rastet aus, als gäbe es keinen Montag nach dem Sónar-Wochenende. Er ist gekommen, um die Sorgen in der Welt da draußen wegzuraven. Nur der Tanzboden und Oleksiis weiße DocMartens, die drübergleiten. Koks an und Kopf aus.

Oleksii, 21 Jahre jung, hat vor einem Vierteljahr die Ukraine verlassen, um nach Lissabon zu ziehen. Auf seinem Unterarm prangt ein tätowierter Schriftzug: art + tech. Kunst und Technik. Die Bedeutung dahinter? Er kennt sich gut mit Computersystemen aus, sagt Oleksii und lacht verschmitzt. Ist er ein Hacker? Das könnte man so sagen, meint er und lacht forsch. Als Sofia Kourtesis’ DJ-Set zum Ende kommt und die Bühne fit gemacht wird für die audiovisuelle Ambient-Show von Max Cooper, streift sich Oleksii seine orangefarbene Cordjacke wieder über. Er will noch rüber, raus aus dem giftgrün bestrahlten Palais und auf die andere Seite des Parks, des Parque Eduardo VII., der dieses Wochenende als Festivalgelände fürs Sónar fungiert. Auf der anderen Seite dient ein gigantisches Gewächshaus auch als einer von vier Floors fürs Festival.

Schon am frühen Freitagabend, noch bevor das Festival offiziell begann, hatte Gustavo Pereira, einer der Kreativdirektoren, die Presse in genau dieses Gewächshaus geladen zum Meet und Greet. Gustavo Pereira stammt aus Porto und ist ein landesweit bekannter DJ, Festival-Manager und Musikmenschen-Zusammenbringer. Er ist ein großzügig lächelnder Mann mit Lockenkopf und schwarzem dicken Brillenrahmen samt kreisrunden Gläsern. Man kann sich leicht vorstellen, wie er jede Gartencocktailparty meistert: Er scheint alle zu kennen, schüttelt viele Hände, konzentriert sich dann aber immer wieder auf seinen jeweiligen Gesprächspartner.

Gustavo Pereira ist auch der Mann, der das Sónar-Festival dieses Jahr zum zweiten Mal nach Lissabon bringt. Diese Stadt mit den vielen ultramarinblauen Wandfliesen. Die atlantiknahe Stadt, bei der selbst Menschen, die schon öfter hier waren, immer wieder vergessen, wie hügelig sie sein kann. Und wie fantastisch die Pastéis de Nata sind, die Eierpudding-Blätterteigtörtchen. In Barcelona existiert das Sónar schon seit 1994: eines der größten Festivals Europas für elektronische Musik, die auch den Avantgarde-Pop nicht scheut. Auch Björk, Aphex Twin und Grace Jones, Kraftwerk und New Order sind einst auf dem Sónar in Barcelona aufgetreten.

In Lissabon steckt alles noch in den Kinderschuhen. Vieles stimmt Pereira hier in Lissabon ganz eng mit Barcelona ab. „Wir haben eine gemeinsame Vision fürs Festival“, versichert Pereira. Es ist nicht so, schwört er, dass er einfach der Meistbietende bei einer Franchise-Lizenzierung gewesen wäre. Sónar steht für ihn nicht bloß für Großraum-Techno, sondern auch für Diskurs und Debatte. Hier im Gewächshaus stehen audiovisuelle Augmented-Reality-Arbeiten, die sich mit Künstlicher Intelligenz und unserem Verhältnis zur Umwelt beschäftigen. Im Tagesprogramm des Festivals werden sie von Kunst-Performances begleitet.

Eine Herausforderung sieht Pereira darin, große internationale Headliner und lokale Talente gut zu balancieren. „Die lokalen Talente“, sagt Pereira, „bringen eine besondere Note, einen besonderen Vibe in das Festival.“ Deshalb sind auch die barrierenbrechende King Kami, Catarina Silva, Sensible Soccers, DJ Nigga Fox, Rui Vargas und Yen Sung gebucht. Doch es lässt sich nicht verleugnen, dass im Line-up die internationalen Namen dominieren. Einige dieser Leute leben in Berlin: die schon erwähnte House-Produzentin Sofia Kourtesis, der südkoreanische Electro-Superstar Peggy Gou sowie Acid Pauli, Cinthie, Héctor Oaks, Patrick Mason und Cormac. Sie alle spielen sich hier in Portugal schon mal heiß für ihren Festivalsommer. Kaum hat es in Berlin noch geschneit und gehagelt, stehen in Lissabon schon 23 Grad Celsius auf dem Thermometer. „Klar, an den Berliner Acts kommen wir gar nicht vorbei“, sagt Pereira und lacht laut und dabei herzlich. „Wir lieben Berlin. Ein Electro-Line-up ohne Berlin geht gar nicht.“

Einer von ihnen ist Héctor Oaks. Schon bevor er 2013 nach Berlin zog, war er im Techno-Underground von Madrid eine Szenegröße. Sein Umzug in die deutsche Hauptstadt hat seiner Karriere dann den großen Push gegeben. Zumal als er dann Resident-DJ bei der angesagten Herrensauna-Party im Tresor wurde. Wir treffen Héctor Oaks am Samstag nach seinem Soundcheck backstage, hinter der Sónar-Clubbühne. Obwohl etwas mit seinen Visuals noch nicht direkt geklappt hat, wirkt der Mann im lila Trainingsanzug mit dem Vokuhila und den raspelkurzen Seitenhaaren tiefenentspannt. Am Samstagabend spielt er live. Ein paar Klassiker, aber auch sieben Tracks von seinem kommenden Album, samt der Münchener Sängerin Sacel, die er auch nach Lissabon mitgebracht hat. Sónar ist für ihn eines der ambitioniertesten Electro-Festivals der Welt.

Dabei ist er einiges gewohnt: Die Underground-Szene Madrids sei crazy. Nach Berlin kam Héctor Oaks 2013 für ein Praktikum als Soundingenieur. „Dann hab ich aber eher in den Clubs studiert: Berghain, Tresor, About Blank und Griessmühle.“ Zudem hat er gejobbt im Record Loft, einem bei DJs beliebten Secondhand-Plattenladen. Bis heute legt er bei seinen DJ-Sets ausschließlich Vinyl auf – „die reinste Form des Auflegens“.

Héctor Oaks bei seinem Live-Set auf dem Sónar-Festival in Lissabon
Héctor Oaks bei seinem Live-Set auf dem Sónar-Festival in LissabonEduardo Filho

Dabei ist Héctor Oaks nicht in jeder Hinsicht ein Hardliner: Zwar spielt er weiter harten Techno, mit viel Bewusstsein für die Geschichte des Genres. Bloß kein Mainstream-EDM! Dem Pop verschließt er sich nicht. Warum auch? „Gerade die junge Generation sprengt die Grenzen“, sagt Héctor Oaks. „Die sind nun viel offener.“ Dennoch ist er sich der Bedeutung von Räumen bewusst: Sein Konzert am Samstagabend beim Sónar würde er auf diese Weise nicht im Tresor spielen. „Im Tresor stacheln mich die kahlen Wände zum Minimalismus an. Aber natürlich steckt auch hier beim Sónar Berlin-Techno in mir drin.“

Ob es dann so heiß wird wie in der Herrensauna? Die Sterne dafür stehen günstig, schon am frühen Samstagabend: Electro-Überfliegerin Peggy Gou legt auf. Der Sónar Club ist gerammelt voll, alle wollen das Disco-Pop-Set der Berlinerin hören. Glitzer auf Gesichtern. Als Peggy Gou den Überhit „Venus“ von Shocking Blue und später von Bananarama einmixt, werden in der Crowd die Fächer gewedelt. Später kommt noch Gous eigener „Starry Night“-Hit. Einige Typen machen ihre wohltrainierten Oberkörper frei.

Patrick Mason auf dem Sónar-Festival in Lissabon
Patrick Mason auf dem Sónar-Festival in LissabonAna Viotti

Wir sind schon bald backstage mit Patrick Mason verabredet. Dem neuen It-Boy der Berliner Electro-Szene: Stilikone, Filmemacher, Fashion-Designer. Und natürlich Techno-Produzent und DJ, mit Faible für Chicago-House. Er trägt eine buntbetupfte Jacke aus Kork mit extraweiten Schultern sowie Gucci-Loafers und auch eine enge schwarze Vintage-Dolce-&-Gabbana-Hose mit Gold-Ornamentik.

Für einen, dessen Aufstieg so rasant und steil vonstatten ging, ist Patrick Mason ein erstaunlich nahbarer Typ. Er strahlt eine ehrlich gemeinte Freundlichkeit aus und erzählt uns davon, wie er nach seinem Coming-out von der bayerischen Oberpfalz nach Berlin kam vor 14 Jahren, erst ins Studi-Zimmer nach Steglitz, dann an die Warschauer Straße und später nach Kreuzberg: „Berlin war die einzige Stadt in Deutschland“, sagt Patrick Mason mit charmant rollendem R, „wo ich mich als Charakter entfalten konnte. Im bayerischen Kaff war eine zweite Person in mir eingeschlossen, die rauswollte.“ Auf der Bühne kann er sie nun ausleben.

So richtig ging das mit der Musik aber erst 2017 los bei Patrick Mason. Seine Ikonen: Janet Jackson, Grace Jones und Prince. Er sampelt die Helden seiner Kindheit. Sein erstes gestreamtes DJ-Set bei HÖR ging in der Pandemie durch die Decke. Plötzlich klingelten Agenten Sturm. „Ich kann es immer noch nicht glauben, dass ich nun die größten Festivals der Welt spiele“, sagt Patrick Mason und klingt dabei verblüffend bodenständig. Einer, der seinen eigenen Erfolg kaum fassen kann. Vier Shows pro Wochenende sind keine Seltenheit. Sein Trick: gesundes Essen, Sport und Powernaps. „Ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich nehme keine Drogen.“

Man glaubt es kaum, als Patrick Mason später auf der Bühne abgeht, hochdosierte Energie und Voguing-Style. Dabei tanzt er nicht nur sich selber frei, sondern zaubert auch vielen in der Crowd ein Grinsen in die Glitzergesichter.

Magisch strahlt die Sonne über den Sónar-Village-Floor. Es ist früher Sonntagabend. Cinthie spielt ihr Live-Set auf Synzesizern, Drum-Computern und Effekt-Geräten: Vocal-House mit einem starken Groove, der in die Beine fährt. Das Publikum in Lissabon geht gut drauf an. Nach ihrem Set treffen wir Cinthie backstage. „Mega schön, wie die Sonne hier gekitzelt und gekickt hat nach dem langen Winter in Berlin“, sagt Cinthie bei einem Glas eisgekühltem, fruchtigem Weißwein. Es passt zu ihrem hellen, melodiebasierten Sound, den sie auch in der Berghain'schen Panorama Bar oft auflegt. Inspiriert durch 80s-Gay-Blockpartys in Chicago, die dort auch tagsüber geschmissen wurden. Hier in Lissabon hat Cinthie beim Publikum schon mal getestet, welche ihrer Tracks funktionieren und dann auf ihr nächstes Album kommen könnten. 

Seit 1999 wohnt Cinthie, ursprünglich aus Saarbrücken, in Berlin. Techno-Legende Westbam hat ihren ersten DJ-Gig in Berlin klargemacht. So kam alles ins Rollen. In Friedrichshain betreibt sie ihren eigenen Plattenladen Elevate Berlin. Ihre Tochter, 13, findet den von Reisen geprägten DJ-Job der Mama ziemlich cool, verfolgt für sie die neusten Techno-Trends auf TikTok. „Dort ist der Autoscooter-Schepper-Sound gerade sehr hart“, sagt Cinthie. „Wenn die Kids erst mal melodischen House und Ecstasy entdecken, wird das sicher ihre zweite Liebe.“

Oleksii, der ekstatische Tänzer und Hacker aus der Ukraine, hat sich schon verliebt. In den von Berlin bestimmten Techno-Sound des Sónar Festivals. Berlin küsst Lissabon und vice versa. Im Sommer will Oleksii nach Amsterdam und Berlin reisen, um zu feiern. Dann wird er sicher wieder seine weißen Doc-Martens glattpolieren und auch seine Schmetterlingsfamilie flattern lassen. Wie viele Herzen er damit auf dem Sónar schon gehackt hat, weiß er vermutlich selbst nicht.

Sónar Lisboa, 31. März bis 2. April 2023