Die Reaktion des Publikums im Hausflur ist eine Mischung aus Überraschung, Sorge und Schock. Seit wann wisse die Person es denn, wird gefragt. Wie die Eltern reagiert hätten. Dass sie es schon ahnen konnten, wegen der Socken, die die Person immer trage. Aber gut, dass es jetzt ausgesprochen sei, auch wenn man es erst verdauen müsse. Kinder will die Person aber nicht, oder doch? Würg. Dann verabschieden sie sich und das Video ist vorbei, begonnen hatte es mit einer Stimme aus dem Off, die sagt: „Ich bin hetero, was soll ich machen?“
Die TikToks von diehuepsche und Gazelle werden hunderttausendfach angeklickt: Die beiden sind gender nonconforming und sorgen in den sozialen Medien für viel Aufmerksamkeit. Zum einen wegen ihrer Looks, die keinen Konventionen entsprechen wollen oder einfach sehr extravagant sind. Zum anderen wegen ihres abstrusen Auftretens: Sie telefonieren mit einer Banane am Ohr, starren in die Kamera oder machen seltsam aussehende Posen. Bei ihren Videodrehs passiert so viel gleichzeitig, dass nicht richtig klar wird, was Spaß, Ernst oder Kritik ist. Irgendwas scheint die Leute aber daran zu catchen: Insgesamt knapp 170.000 Menschen folgen @diehuepsche auf TikTok, bei @gazelleisherxname sind es 233.000.
Der Begriff gender nonconforming drückt aus, dass eine Person in ihrem Verhalten und ihrer Kleidung nicht den Erwartungen an das ihr bei der Geburt zugewiesene Geschlecht entspricht. Wenn also eine von der Gesellschaft als männlich gelesene Person Kleider und hohe Schuhe trägt oder sich schminkt, dann gilt das als gender nonconforming.
@diehuepsche Hey dein outing ist voll ok #hetero #berlin #treppenhaus ♬ Originalton - Die Huepsche
An diesem Tag im März ist diehuepsche für ihre Verhältnisse schlicht angezogen und erscheint in Hoodie und Baseballcap in einem Café in Friedrichshain. „Hi, ich bin diehuepsche, Pronomen sind he/she/they“, sagt sie. Diehuepsche sei ihr neuer Eigenname.
Pronomen: he/she/they
Duc, so der Geburtsname von diehuepsche, ist eine genderfluide Person: Das heißt, sie legt sich nicht auf ein Geschlecht fest. Diehuepsche hat auch keine Präferenz dafür, welche Pronomen für sie verwendet werden. „Such’s dir am besten aus“, sagt sie, „ich benutze auch alle Pronomen einfach kreuz und quer, das ist ok.“ Für diehuepsche ist das Konzept Geschlecht gemeinhin obsolet. „Ich würde es eher Energien nennen“, sagt sie. „Ich habe sowohl weibliche als auch männliche Energien, mal mehr und mal weniger ausgeprägt.“ Gazelle kommt wenig später auf dem Fahrrad an, mit hochhackigen Stiefeln und Schlaghose. Auch der Regen konnte ihr nichts anhaben. Gazelle Vollhase ist eine Transfrau und ihre Pronomen sind sie/ihr.
Für Social Media drehen diehuepsche und Gazelle oft Videos zusammen. Die Themen drehen sich meist ums Gendern, um Schule und um alles, was „typisch Berlin“ ist. Hierbei spielen die beiden mit vielen Klischees, wie die der Waldorfpädagogik – sie lassen manchmal einen Gag auch einfach ins Leere laufen.
@diehuepsche Einfach mal am Pool entspannen #urlaub #pool ♬ Originalton - Die Huepsche
Crocs mit Absatz und Monobraue à la Frida Kahlo
Hinzu kommt ihr Aussehen: Der Look von diehuepsche ist auffällig und immer anders. Das einzig Beständige sind ihre großen Sommersprossen. Ansonsten trägt sie ausgefallene Kleider, Trainingsanzüge oder hohe Schuhe (Crocs mit Absatz!). Sie trägt Perücken, manchmal Kopftücher, Baseballcaps oder Hörner wie ein Teufel. Manchmal übermalt sie ihre Augenbrauen mit schwarzem Eyeliner und sieht aus wie einem Comic entsprungen. Oder sie verbindet ihre Brauen zu einer Monobraue à la Frida Kahlo.
Gazelle mag es ein wenig schlichter. Ihre meist feminine Kleidung hilft ihr, von anderen auch als Frau gelesen zu werden. „Ich würde gerne sagen, Kleidung hat kein Geschlecht“, sagt sie, „und klar kann jeder alles tragen, aber ich merke einfach, dass es männlich und weiblich verstandene Kleidung gibt und mache mir das zunutze.“
Im Café werden beide von einer Followerin angesprochen: „Ich liebe eure Videos, die sind so witzig, macht weiter so!“ Dass sie erkannt und angesprochen werden, passiere mittlerweile ziemlich oft. Auf TikTok bestimmt ein Algorithmus, welche Videos wem auf der Startseite angezeigt werden. Er orientiert sich daran, wie lange oder wie häufig ein Clip angesehen und ob dieser geliked, kommentiert oder geteilt wurde.
Die Videos von diehuepsche und Gazelle polarisieren stark und driften dem Algorithmus geschuldet auch häufiger in die falschen Bubbles ab. In, wie beide sagen, „Männer-Bubbles“. Von dort kämen die meisten aggressiven Äußerungen in der Kommentarspalte. „Die, die uns nicht mögen, sind nur immer besonders laut“, sagt diehuepsche. Das meiste Feedback sei positiv.

Auf dem Boden liegen vor Lachen
Gibt es eigentlich ein höheres Ziel? „Ich glaube, ein Ziel gibt es nicht unbedingt“, sagt Gazelle. „Ich bin aber sehr dankbar, dass diese Videos, bei denen wir beim Dreh regelmäßig auf dem Boden liegen vor Lachen, auch andere Leute witzig finden.“
Die regelmäßigen Videos im Treppenhaus entstünden spontan und ohne Skript. Diehuepsche ist laut Gazelle diejenige, die – wenn überhaupt – Regieanweisungen gibt. Die brauche nur ein Stichwort, und schon habe sie eine Story. Um über Gespräche und Erlebnisse der Vergangenheit „alles rauszulassen“, hätte sie mit TikTok die optimale Plattform gefunden. „Man kann ja immer behaupten, man möchte Leute empowern oder zum Lachen bringen“, sagt diehuepsche. „Aber das ist einfach nicht unsere primäre Absicht.“ Sie machen das, weil es Spaß macht und sie sich selbst gerne darstellen. Die Themen, die dabei behandelt werden, sind eben die, die sie selbst beschäftigen.
Die Leute triggert es, dass wir nicht so sind wie andere.
Der Auslöser, mit TikTok anzufangen, war für sie die Pandemie. Gazelle schauspielerte schon länger, und ihr fehlte in der Zeit die Bühne. Dadurch entdeckte sie TikTok für sich, und diehuepsche machte irgendwann mit. „Wir haben dadurch eine neue Form von Abhängen und Chillen entwickelt“, sagt Gazelle. Beide werden oft gefragt, ob ihre Videos ernst gemeint sind. „Fragt euch lieber mal: Was triggert euch denn so an diesen Videos?“, entgegnet diehuepsche. „Die Leute triggert es, dass wir nicht so sind wie andere.“ Dadurch entstehe erst die Provokation, weil es für andere so ungewohnt sei. Sie nehmen sich selbst nicht zu ernst und definieren sich immer wieder neu – das gilt anscheinend auch für ihr Alter.
Beide lachen, als die Altersfrage gestellt wird. Diehuepsche sagt, sie sei 19, „Sternzeichen Widderin“. Daraufhin meint Gazelle: „Na gut, dann bin ich irgendwas Mitte 20.“ So richtig glaubwürdig klingt das nicht.
Kostet es denn keine Überwindung, sich von jeglichen gesellschaftlichen Ansprüchen freizumachen? „Früher fiel es sehr viel schwerer“, sagt diehuepsche, für die es ein langer Prozess zu ihrer jetzigen Identität war. Aufgewachsen in Bayern habe sie irgendwann gemerkt, die Erwartungen ihres Umfelds an sie als einen Jungen nicht erfüllen zu können. Das habe sie dann versucht zu kompensieren, indem sie sich „hypermaskulin“ anzog und verhielt.
Derzeit hat sie nicht viel Kontakt zu ihrer Familie und ihr altes Leben als Duc weitestgehend hinter sich gelassen. Daher auch der neue, ungewöhnliche Name: diehuepsche. „Ich habe früher Selfies im Spiegel gemacht und daruntergeschrieben: Einfach die Hübsche!“, sagt sie. „Die Leute sind durchgedreht. Jemand, der sich selbst als hübsch bezeichnet, gilt sofort als eingebildet.“ Und das, obwohl im Netz so viel über Body Positivity und Selflove geredet wird.

„Einfach die huepsche“ mit Rechtschreibfehler
Dementsprechend war die Namensgebung eine Rebellion. Der ultimative Trigger: „Ich habe überlegt: Was regt die Leute noch mehr auf? Es mit „ue“ zu schreiben und den Artikel mit ins Wort zu nehmen.“ Dann wird diehuepsche auch nicht dekliniert, sondern wie ein Eigenname behandelt. „Damit kommen die Leute gar nicht klar.“ Und da ist noch ein Rechtschreibfehler. Das p. „Stimmt“, sagt diehuepsche und muss lachen. „Ich denke mittlerweile, das sei die korrekte Schreibweise.“
@gazelleisherxname Hauptsache vegan #typischdeutsch #verygerman ♬ Jazz Bossa Nova - TOKYO Lonesome Blue
Der Ruf der Queer-Hauptstadt zog diehuepsche nach Berlin. Sie ist vor vier Jahren nach Berlin gezogen. Also mit 15? „Äh, ja“, sagt sie. Gazelle kommt ursprünglich aus dem Ruhrgebiet.
Vom Café geht es wieder hinaus auf die Straße, um Videos zu drehen. Gazelle filmt ein Video für ihre Serie „Typisch Deutsche“. Diehuepsche improvisiert und fordert Gazelle hinter der Kamera auf, die Rolle einer Mutter einzunehmen, die sich auf Sächsisch mit ihren Kinder streitet. Im Video mischt sich diehuepsche als Fremde in den Streit ein und erwähnt dabei ironisch das Aktiv-Zuhören-Prinzip aus der Pädagogik. Sie ist mit vielen westlichen Pädagogikansätzen und den damit einhergehenden Erwartungen an Kinder nicht einverstanden. Sie setzten voraus, dass Kinder schon funktionierende Menschen sind, dabei seien die doch noch für lange Zeit in einer Findungsphase.
@diehuepsche So einfach bekommt man hilfe, wenn man sie braucht #kita #elternarbeit ♬ Originalton - Die Huepsche
„Ich habe auch schon selbst in der Logopädie mit Kindern zusammengearbeitet.“ Den Job habe sie aber schon vor längerer Zeit gekündigt. Momentan sei sie einfach „Lebefrau“. Ziemlich viel Berufserfahrung für jemanden, der 19 Jahre alt ist, oder? „Mmhm“, sagt diehuepsche.
Sichere Orte und Cis-Hetero-Männer
Es ist unvermeidbar, dass die Videos eine Gesellschaftskritik implizieren. Es sei aber jedem selbst überlassen, wie er es aufnimmt. Die Kommentarspalte sieht diehuepsche als Spiegel der Gesellschaft. Einer der größten Trigger sei auf jeden Fall das Gender- und Pronomen-Thema, so Gazelle. Sie hofft, dass ihre Videos dazu beitragen, die gendergerechte Sprache nach und nach zu normalisieren. „Dass 15- und 16-Jährige uns auf dem Schulhof zugucken und dann selbst gendern, weil wir das machen, das wäre mein Traum.“

„Wir empowern uns ja auch gegenseitig“, sagt diehuepsche. Genau, meint Gazelle. „Wenn ich sehe, was diehuepsche sich traut anzuziehen, bestärkt das auch mich.“
Das heißt allerdings nicht, dass beide nie darauf achtgeben müssten, was sie anziehen. „Bevor wir einen Ort betreten, fragen wir uns immer, ob der Ort safe ist“, sagt diehuepsche. „Wenn ich einkaufen gehe, ziehe ich mir kein promiskuitives Kleid an.“ Die Sicherheit eines Ortes stehe und falle mit „seiner Anzahl an Hetero-Cis-Männern“.
Natürlich gebe es auch Gegenbeispiele, zum Beispiel die männlichen Kollegen auf Gazelles Arbeit, die seien sehr aufgeschlossene Cis-Männer. Sie arbeitet Teilzeit im Recruiting eines Unternehmens. Trotzdem sei es ein Fakt, dass von dieser Bevölkerungsgruppe die meiste Aggression und das meiste Unverständnis ausgehe. „Wir wurden beide schon körperlich angegriffen, bespuckt und beleidigt“, sagt Gazelle. Mehr möchten beide dazu nicht sagen. Das ist etwas, das sie triggert.
„Trotzdem habe ich mich noch nie so nah an mir selbst gefühlt wie jetzt“, sagt diehuepsche. Gut wäre jetzt noch, wenn die Leute sich schlichtweg mehr entspannen würden, sagt Gazelle. Und jede und jeden so sein lassen, wie er oder sie eben sein möchte. Witzig bleiben die Videos immer noch. Unter anderem wegen der Pose, die diehuepsche gerade beim Drehen macht. Sie drückt die Knie zusammen, als müsse sie aufs Klo. Wie kommt sie denn auf sowas? „Hä, kennt man das nicht mehr, von SchülerVZ? “, fragt sie. Naja, 19-Jährige definitiv nicht mehr.





