Straftaten gegen LGBTIQ

Neue Zahlen vorgestellt: Trans- und homophobe Gewalt erreicht in Berlin neuen Höchststand

Das geht aus dem am Montag vorgestellten Monitoringbericht zu trans- und homophober Gewalt in Berlin hervor. Dunkelziffern und Grauzonen sind immer noch extrem hoch.

Regenbogenfahne bei der Christopher-Street-Day-Parade in Berlin
Regenbogenfahne bei der Christopher-Street-Day-Parade in Berlinimago/Cavan Images

Was ist, wenn die Stadt Berlin, die Straßen, die U-Bahnhöfe und das Warten an der Ampel, wenn all das als eine konstante Bedrohung wahrgenommen wird? Sarah Riese von der Organisation Camino erzählt von einer Person, der es genau so geht: „Ich muss auf der Straße immer aufpassen, welche Menschen um mich sind, ich bin immer in Alarmbereitschaft“, sagt sie, „außerdem muss ich immer überlegen, wenn ich rausgehe: Wie sicher ist der Zielort, wie sicher ist der Weg dorthin, und meistens ist nichts davon sicher.“

Der Monitoringbericht zu trans- und homophober Gewalt in Berlin ist bis jetzt bundesweit der einzige Bericht, der umfassend Informationen zu trans- und homophoben Gewalttaten aufarbeitet. In diesem werden nicht nur Fallzahlen zusammengetragen, sondern auch Interviews mit betroffenen Transpersonen als Erfahrungsberichte ausgewertet.

Erstellt wurde der Bericht von der gemeinnützigen Organisation Camino und gefördert von der Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung. „Mit dem Monitoringbericht wollen wir zu einem öffentlichen Bewusstsein beitragen und Betroffene weiter motivieren, Vorfälle zu melden und zur Anzeige zu bringen“, erklärte Justizsenatorin Lena Kreck (Linke), die zusammen mit Albrecht Lüter und Sarah Riese von Camino in einer Pressekonferenz die neuesten Ergebnisse vorstellte.

Insgesamt ist die Anzahl an Gewalttaten in der Hauptstadt auf einen neuen Höchststand gestiegen. Im vergangenen Jahr wurden 456 solcher Taten erfasst, im Jahr 2020 lag die Zahl noch bei 277 Fällen.  Seit 2014 lässt sich ein kontinuierlicher Anstieg polizeilich registrierter Straftaten gegen die LGBTIQ-Community  beobachten, der ansteigende Trend erstreckt sich sowohl auf Gewaltdelikte als auch auf andere Taten wie Beleidigungen oder Bedrohungen.

Beleidigungen waren zwar 2021 mit 48,5 Prozent der erfassten Taten das am häufigsten angezeigte Delikt, aber es kam auch zu 110 Gewaltdelikten – ein Anstieg um 22,2 Prozent. Gewalt umfasst Körperverletzung bis hin zu Totschlag. In den Jahren 2019 und 2020 wurden noch jeweils 90 solcher Delikte registriert. Das muss aber nicht heißen, dass Gewalttaten gestiegen sind, sondern dem Bericht zufolge kann es auch als Hinweis interpretiert werden, dass sich mehr Menschen trauen eine Anzeige aufzugeben.

9 von 10 Gewalttaten werden in polizeilichen Statistiken nicht erfasst

Die Dunkelziffer bleibt dabei noch sehr hoch. Laut Albrecht Lüter ist davon auszugehen, dass „neun von zehn Fällen in polizeilichen Statistiken gar nicht auftauchen“. Außerdem ist die Grauzone, was zu transfeindlicher Gewalt zählt und was nicht, groß. Fragt man Betroffene, so geht „transfeindliche Gewalt über körperliche und verbale Gewalt weit hinaus“, wie Sarah Riese heute bei der Pressekonferenz sagte.

„Sie findet eben auch statt, wenn Betroffene zum Beispiel in Arztpraxen wiederholt und trotz Hinweisen mit dem falschen Geschlecht aufgerufen werden oder wenn es nicht möglich ist den ‚Dead Name‘ aus Dokumenten zu streichen.“ Der Dead Name ist der alte Vorname, den sie für sich nicht mehr verwenden. Selbst wenn man transfeindliche Gewalt enger fasst und auf verbale und körperliche Gewalt fokussiert, passiere sie häufig und überall. Sie sei keine Ausnahmeerscheinung, sondern Teil des Alltages von Transmenschen.

„Ich wechsele die Straßenseite, wenn mir eine Gruppe Männer entgegenkommt“

Laut Bericht wurde ein Großteil der trans- und homophoben Straftaten in den innerstädtischen Ausgeh- und Wohnvierteln Berlins angezeigt. Fast ein Viertel der Fälle wurde demnach im Bezirk Mitte angezeigt, dahinter folgen Tempelhof-Schöneberg und Friedrichshain-Kreuzberg. Insgesamt ereigneten sich fast 60 Prozent der Taten in diesen drei Bezirken. Mehr als die Hälfte aller Vorfälle fand zudem in den Abend- und Nachtstunden statt.

Deswegen würden viele Transpersonen es meiden, nachts vor die Tür zu gehen. Unterdessen seien auch Parks besonders gefährliche Orte. Eine interviewte Person beschreibt, dass sie die Straßenseite wechsele, wenn ihr eine Gruppe von Männern entgegenkäme. Denn 90 Prozent der Tatverdächtigen seien laut des Monitorings männliche Personen.

Neben Übergriffen im öffentlichen Raum wurde in den Interviews auch besonders häufig Gewalt im Umgang mit Behörden thematisiert. „Zum Beispiel, dass Transpersonen medizinische Hilfe verwehrt wird, wenn Transgeschlechtlichkeit katalogisiert wird“, so Sarah Riese. Gerade Gewalt in diesen Kontexten führe zu einem besonderen Gefühl der Ohnmacht, denn Behörden sind die Instanzen, die Betroffenen helfen sollten.

Alle Transmenschen sind Formen von Gewalt ausgesetzt, aber darüber hinaus gebe es laut des Monitorings auch von Mehrfachdiskriminierung betroffene Transmenschen, die noch häufiger Gewalt erleben würden. „Zum Beispiel wenn Transfrauen misogyn beleidigt und herabgesetzt werden“, sagt Riese, „Transmenschen werden häufig auch als lesbisch oder schwul gelesen und dann homophob angegangen“. Transpersonen mit Migrationshintergrund haben zudem mit Rassismus zu kämpfen. 

Lena Krecks Ziel ist es, „einen Beitrag dazu zu leisten, dass das Dunkelfeld aufgehellt wird“. Außerdem sollen sich die Anzeigebereitschaft und das Vertrauen in die staatlichen Stellen erhöhen. Obwohl es noch viel zu tun gebe, sieht sie Berlin bereits in einer Vorreiterrolle. „Trotzdem wollen wir in keinem Fall über vorhandene Leerstellen hinwegtäuschen“, sagt sie. (mit AFP)