Skandal um Rammstein

So war das Rammstein-Konzert in München: „Ich will das Stadion brennen sehen“

Am Mittwochabend haben Rammstein im Münchner Olympiastadion gespielt. Die Berliner Zeitung war vor Ort und sprach mit Fans über die Vorwürfe gegen Till Lindemann.

In den vergangenen Tagen waren die Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann immer lauter geworden.
In den vergangenen Tagen waren die Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann immer lauter geworden.Jens Koch/dpa

In einer sterilen Hotel-Lobby, unweit des Münchner Olympiaparks, sitzen Caro und Stefan in Sesseln an einem Tisch, beide trinken Bier. Sie habe sich mit ihren Kindern unterhalten, sagt Caro, über Rammstein, die Vorwürfe gegen Frontsänger Till Lindemann. Darüber, ob es in Ordnung sei, nach alledem auf das Konzert zu gehen.

Doch sie wollen. Caro, 42, und Stefan, 39, haben Karten gekauft, die andere kurzfristig zurückgegeben hatten. Obwohl ihre Kinder, beide Teenager, das anders sehen. „Weil ich nicht urteilen will, solange nichts nachgewiesen ist“, sagt Caro.

Nachgewiesen, zumindest im strafrechtlichen Sinne, ist tatsächlich nichts. Aber was bedeutet das, wenn die Anschuldigungen gegen Lindemann nahezu täglich mehr werden? Was kann und will ein Fan erdulden? Was zählt?

Dem Sänger und seinem Umfeld wird vorgeworfen, sie hätten junge Frauen in teils beängstigende Situationen gebracht. Einige von ihnen seien während Konzerten ausgewählt und gefragt worden, ob sie auf die After-Show-Party kommen wollten. Später, so schildern es mehrere Frauen, sei es mitunter zu sexuellen Handlungen gekommen, auch Drogen sollen im Spiel gewesen sein. Die Band besteht darauf, nicht vorverurteilt zu werden. An diesem Mittwochabend spielt sie ihr erstes von vier Konzerten in München.

Rammstein war für sie „gegen den Strom“

Auf dem Weg zum Olympiastadion, vorbei an Tankstellen und einem Kongressaal der Zeugen Jehovas, erzählen Caro und Stefan, wie sie zu Rammstein gekommen sind. Neben ihnen gehen Caros Bruder und seine Freundin Silke, sie alle sind aus Rosenheim angereist. Caro sagt, dass sie in ihrer Jugend lange nur „Mädchenkram“ gehört habe, doch dann kam Rammstein, das sei „gegen den Strom“ gewesen. Heute, sagt sie, sei Rammstein für sie auch Nostalgie.

Sie habe zum ersten Mal in sozialen Medien von den Vorwürfen gegen Lindemann erfahren. Die Irin Shelby Lynn hatte ihre Erfahrungen auf Instagram veröffentlicht, vom Auftakt der Europatour im litauischen Vilnius. „Wir gehören nicht zur Social-Media-Generation, die so was als einzige Wahrheit versteht“, sagt Caro. Auf diesen Plattformen werde viel behauptet, davor habe sie auch ihre Kinder gewarnt.

Tatsächlich haben mittlerweile mehrere Zeitungen und andere Medien recherchiert, sie haben – zumeist anonyme – Stimmen gesammelt, die von erstaunlich ähnlichen Vorfällen berichten. Zuletzt hatte die Berliner YouTuberin Kayla Shyx von einem Konzert im Sommer 2022 erzählt. Davon, wie sie während der Show angesprochen und später in einen kleinen Raum geführt worden sei. Dort habe sie von einer anderen Frau erfahren, dass sie zu der Gruppe gehöre, aus der sich Lindemann später einzelne „aussuchen“ werde.

„Pass ja auf dein Getränk auf“

Sie wäre nie auf eine solche Party gegangen, sagt Caro. „Meine Mutter hat gesagt, tu so etwas nicht, und pass ja auf dein Getränk auf.“ Trotzdem dürfe man diese jungen Frauen nicht verurteilen, man müsse sie ernst nehmen. Die Frage sei, was da bei der Aufklärung schiefgegangen sei.

Silke, 39, stimmt ihrer Freundin zu. „Man muss sich anschauen, welche psychischen Erkrankungen diese Frauen vielleicht haben“, sagt sie. „Vielleicht begeben sie sich bewusst in solche Situationen.“ Sie selbst, so erzählt sie es, als sich das Olympiastadion mit seinem imposanten Zeltdach vor ihr erhebt, sei Ärztin im Bereich Psychiatrie und Psychologie.

Caro sagt, dass ihre Tochter angesichts der Vorwürfe gegen Lindemann strenger sei als sie selbst. „Wir waren toleranter“, sagt Silke.

Ein Casting für Lindemann? „Auf gar keinen Fall“

Eben noch in der Hotel-Lobby, verschwinden die vier nun in der Menschenmasse am Eingang des Stadions. Einige hier tragen schwarze Shirts mit der weißen Aufschrift „Manche führen“, es ist ein Zitat aus einem Rammstein-Song. „Ich will dieses Stadion brennen sehen“, sagt ein Mann im Gedränge.

Hinter dem Einlass geht es hinauf, ein Weg führt vorbei an den oberen Reihen der Tribünen. Rechts erstreckt sich das Becken des Stadions, links sind Verkaufsstände aufgereiht. Neben Brezeln und Bier steht das kleine Zelt des Awareness-Teams. Sechs Mitarbeiter, so hieß es im Vorfeld, sollen neben der Security Ausschau nach Auffälligkeiten halten. Mit der Presse reden dürften sie nicht, sagen sie, Anweisung vom Veranstalter. Ein älterer Mann, er scheint Probleme mit einem seiner Beine zu haben, leiht sich einen Stuhl für das Konzert.

Eine Gruppe von Gegendemonstranten verspottet

An der Treppe zu Block P, schräg gegenüber der Bühne, steht Silvia. Es ist kurz vor 20 Uhr, gerade spielt die Vorband des Abends, das Duo Abélard. Sanfte Klaviertöne. Silvia, 61, ist aus Dresden angereist. „Vielleicht ist es verschmähte Liebe, man weiß es nicht“, sagt sie und meint die Frauen, die mit ihren Vorwürfen gegen Lindemann an die Öffentlichkeit gegangen sind. Auch auf Nachfrage bleibt sie dabei. Vielleicht, sagt Silvia, seien sie von dem Sänger abgewiesen worden. „Es gehören immer zwei Seiten dazu.“

Ja, sie habe zwei Töchter, 39 und 37 Jahre alt. Aber was wäre, wenn die beiden auf solche After-Show-Partys gingen, wenn sie von Übergriffen berichten würden? „Sie wurden so erzogen, dass sie so was nicht machen“, sagt Silvia und geht mit ihren Freundinnen die Treppe hinunter zu ihren Plätzen.

Das Klavier spielt ein Cover des Rammstein-Titels „Hier kommt die Sonne“, aber die Sonne geht, sie rutscht hinter das Stadiondach. Die Münchner Abendzeitung schreibt, dass einige Fans vor dem Gelände eine Gruppe von Gegendemonstranten verspottet hätten.

Valentina ist in Russland geboren, heute wohnt sie in Innsbruck. Die 26-Jährige ist mit ihrer Freundin gekommen, sie sind auf dem Weg zu ihrem Block. Es ist Valentinas erstes Rammstein-Konzert. Sie sei hier, weil es das letzte sein könnte, scherzt sie, immerhin könnte die Band doch bald am Ende sein. Wegen der Vorwürfe, ja, aber auch wegen des Alters. Till Lindemann ist 60.

Auch sie wäre auf eine After-Show-Party mit Rammstein gegangen

Auch sie wäre auf eine After-Show-Party mit Rammstein gegangen, sagt Valentina. Nicht auf eine derer, die den Berichten zufolge für die jungen Frauen und den Sänger allein organisiert wurden. Sie spricht von einer Party mit Musik, der guten Zeit wegen. Und wenn man sie im Publikum ansprechen und auswählen würde, wie es Alena Makeeva getan haben soll, eine Mitarbeiterin von Lindemann, die „Casting-Direktorin“? Valentina lacht. „Nein, auf gar keinen Fall.“

Feuer und Rauch: das Rammstein-Konzert im Münchner Olympiastadion
Feuer und Rauch: das Rammstein-Konzert im Münchner OlympiastadionFelix Hörhager/dpa

Unten, im Block P, füllen sich die Sitzreihen. Über die große Treppe, direkt gegenüber der Bühne, strömt die Menge hinab wie ein Wasserfall in den Stehbereich. La-Ola-Wellen schwappen über die Ränge, Applaus brandet auf. All das hat etwas von einem Naturereignis. 60.000 Menschen, ausverkauft. Über die Lautsprecher sagt eine Stimme, die Band bitte darum, dass man das Konzert nicht mit dem Smartphone filme.

Rammstein: „Manche führen, manche folgen“

Sie sind beide 23 Jahre alt und kommen aus der Oberpfalz, aus der Nähe von Nürnberg. Zwei junge Frauen, die auch ihre Vornamen lieber nicht in der Zeitung lesen wollen. Sie seien mit Rammstein aufgewachsen, die Tickets hätten sie heute spontan gekauft.

Wenn man von den Vorwürfen nichts wüsste, sagt eine, dann würde sie mitgehen auf die After-Show-Party, Casting hin oder her. „Es wäre schade, wenn diese lange Bandgeschichte wegen der Vorwürfe gegen ein einziges Mitglied Schaden nehmen würde.“ Sie spricht, als sei Lindemann ein Exot in dieser Band, als habe er ohne das Wissen der anderen gehandelt. „Es scheint ja genug Menschen zu geben, die heute die Entscheidung getroffen haben, trotzdem zu kommen.“

Dann fährt Lindemann mit einer Art Hebebühne hinab, das „Rammlied“ ist der erste Song des Abends. „Manche führen, manche folgen.“ Schwarzer und weißer Rauch zieht durch das Stadion, der Bass wummert im Bauch, selbst hier hinten, wo sich die 23-jährigen Frauen aus der Oberpfalz wie alle anderen aus ihren Sitzen erheben. Beide werden das komplette Konzert stehend, nahezu regungslos und mit verschränkten Armen verfolgen, ein Lächeln im Gesicht.

Auch dann, als Lindemann, dieser kleine Mann dort vorn, die Zeile „Du darfst mein Bestrafer sein“ singt. Auch dann, als er beim Lied „Puppe“ einen riesigen Puppenwagen schiebt, der bald in Flammen aufgeht. Auch dann, wenn später, ein paar Reihen weiter hinten Männer mit nackten Oberkörpern „Du hast mich“ grölen. Es scheint für sie die ganz große, überwältigende Show zu sein. Ohrenbetäubend. Und immer wieder Flammenwerfer.

Sie tragen Rammstein in Schlauchbooten über den Köpfen

Nach dem Song „Zeit“ verschwindet die Band. Einem Bericht zufolge verzog sich Lindemann in der Vergangenheit während der kommenden Minuten in einen kleinen Raum unter der Bühne. Der Wochenzeitung Zeit erzählte eine Frau, dass sie während eines Konzerts 2022 in Mexiko von der „Casting-Direktorin“ dorthin gebracht worden sei. Makeeva habe sie gefragt, ob es okay sei, wenn es um Sex gehe. Sie habe eingewilligt. „Ich war bereit, gewisse Dinge zu tun, aber nicht alles“, sagte die Frau. Letztlich habe Lindemann ihr lediglich Komplimente gemacht, man habe einen Kuss ausgetauscht.

Was an diesem Abend hinter oder unter der Bühne geschieht, lässt sich von der Tribüne nicht beobachten. Genauso wenig wie der Bereich, den man „Reihe Null“ (Row Zero) nennt. Dort, zu den Füßen der Band, standen den Berichten zufolge einige der Frauen, die für die Partys ausgesucht wurden. Vor dem Konzert hieß es, dass dort diesmal keine Gäste sein würden.

Zugleich machte ein Beitrag in den sozialen Medien die Runde, der eine Art Solidaritätsaktion für Rammstein ankündigte. So sollten die Fans nach dem letzten Lied niederknien, genauso wie es die Band zu tun pflegt. Doch auch davon wird nichts zu sehen sein. Warum knien, wenn man auch stehend huldigen kann? Zugabe.

Während des Songs „Engel“ tragen Tausende Hände die Band in Schlauchbooten über die Köpfe. An den Getränkeständen im Innenbereich schreien Fans den Verkäufern letzte Wünsche entgegen. Lindemann singt, er wolle in Beifall untergehen. Der ist ihm sicher. Weißes Konfetti fällt von eisernen Türmen im Olympiastadion. „München, danke, dass ihr hier und bei uns seid.“ Dabei bleibt es, kein Wort zu den vergangenen Wochen. Die Band fährt mit der Hebebühne hinauf hinter das Rammstein-Logo und winkt.

Oben, beim Awareness-Team, ziehen die Menschen vorbei an dem kleinen Zelt, sie mustern die Aufkleber an der Kleidung der Mitarbeiter. Ein schwarzes Auge auf pinkem Grund. Der Mann, der Probleme mit seinem Bein hatte, bringt den Stuhl zurück. Ein paar Meter weiter steht ein anderer und sagt: „Das letzte Mal war weniger Feuer.“ Ansonsten, so scheint es, war aber alles wie immer.


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