Alles fing damit an, dass der DJ nicht kam. 2017 in einer Neuköllner Bar. „Vielleicht kannst du übernehmen?“, fragte eine Freundin Edna Martinez. Martinez war eigentlich gekommen, um zu tanzen, nicht um aufzulegen. „Auf keinen Fall!“, kontert sie also. Vor allem: Sie hat bis dato keinerlei Erfahrung als DJ. „Aber du kennst dich doch so gut mit Musik aus“, lässt die Freundin nicht locker. Und sie finden einen Deal: Die Freundin bedient den Sound-Mixer. Und Edna Martinez sagt ihr, welcher Track jeweils als nächster kommen soll. Es wird der Beginn einer wunderbaren DJ-Laufbahn. Martinez verschafft sich später auch die nötigen technischen Skills. Inzwischen hat sie auf den renommiertesten Festivals gespielt, von Glastonbury über die Fusion und auch beim CTM, oben im Berghain, in der Panorama Bar.
Aber Edna Martinez, 1989 geboren im kolumbianischen Valledupar, ist sehr viel mehr als ein DJ. Sie hat Radiosendungen produziert, Events organisiert, unter anderem im Yaam und im Gretchen. Aber vor allem ist sie die neue Musik-Kuratorin am Haus der Kulturen der Welt (HKW). Oder wie es dort offiziell heißt: Kuratorin für Musik- und Klangpraktiken. Somit ist Martinez Teil des Kernteams von Bonaventure Ndikung, dem neuen Intendanten des HKW. Abgesehen vom roten Teppichboden ist ihr Büro eher glamourfrei. Allerdings sind es nur ein paar Treppenstufen runter zum HKW-Restaurant, der Weltwirtschaft, die sich easy in ein Tanzlokal transformieren lässt; sowieso hängt eine stattliche Disco-Kugel an der Decke, sicher eine der größten der Stadt.
Martinez’ Vertrag läuft, wie der von Ndikung, zunächst für fünf Jahre. Und für die haben sie eine Vision. Schon zur Neueröffnung des Hauses am Wochenende vom 2. und 3. Juni ist Martinez ein Coup geglückt: Sie konnte die malische Wassoulou-Sängerin Oumou Sangaré für ein Konzert gewinnen. Zu den Fans der Grammy-Preisträgerin zählen auch Beyoncé und Alicia Keys. Die schauten zwar nicht vorbei, aber die Paulette-Nardal-Dachterrasse war trotzdem proppevoll mit sehr verschiedenen Menschen: Älteres Publikum mit Silberhaar Seite an Seite mit Hipstern, bei denen man sich leicht vorstellen konnte, dass sie irgendwas mit Kunst(geschichte) studieren. Und auch Kinder, auf den Schultern ihrer Eltern. Am Nachmittag hatten sie noch in der Kinderdisko getanzt, die sie hier am HKW schmunzelnd das „Zwerghain“ nennen.

Als wir Edna Martinez treffen, auf der Weltwirtschaft-Terrasse, dicht am Spree-Ufer, sagt sie früh schon diesen einen Satz, nach dem sie sich dann selber fast unter den Tisch lacht: „Es wäre unmöglich, sich in Kolumbien eine Terrasse ohne Musik zu denken.“ Martinez’ Praktikantin und auch der HKW-Pressechef, die beide mit am Tisch sitzen, zucken in diesem Moment ruckartig auf: Oh wei, stimmt, hier auf der Weltwirtschaft-Terrasse hört man heute Mittag keine Musik. In Kolumbien undenkbar! Wobei die Weise, wie Edna Martinez melodisch mit spanischem Zungenschlag spricht, etwas höchst Musikalisches hat. Und auch der Unter-den-Tisch-lachen-Modus ist bei ihr offensichtlich dicht an ihrer Grundtonalität: Ihr mit mohnblumenrotem Lippenstift überzogener Mund strahlt um die Wette mit den freundlich-wachen Augen hinter ihrer bernsteinfarbenen Gucci-Brille.
Sowieso ist Martinez nicht hier ans HKW gekommen, um alles so einzurichten, wie man es in Kolumbien machen würde. Sie bringt natürlich ihre Herkunft und ihre Geschichte mit. Aber, so erzählt sie, auch ihr Blick auf ihre eigene Geschichte hat sich in und durch Berlin verändert. Martinez stammt aus der karibischen Seite von Kolumbien. Dort existiert eine Kultur der Picó-Soundsysteme. „Ein bisschen wie in Jamaica“, sagt Martinez. „Vor allem an Sonntagen sieht und hört man überall die Soundsysteme. Die Leute treffen sich da, auch Familien. Es wird viel Musik gespielt, vor allem afrikanische, karibische.“ Musik als Ort des Miteinanders. Als Martinez eine Weile in Berlin war, kam eine gewisse Nostalgie in ihr auf. Doch sie fand eine Tanzgruppe für traditionelle kolumbianische Musik: Cumbia und Ähnliches. „Von Berlin aus habe ich auf die karibische Kultur noch mal neu und anders geblickt“, sagt Martinez. „Und ich habe mehr zur Geschichte, überhaupt zu den Hintergründen geforscht: Was bedeutet dieses Kostüm oder jener Klang? Als DJ gehe ich von Sounds aus, aber ich betreibe auch viel Recherche. Mich beschäftigen politische Fragen: Wie funktionieren Line-ups? Durch mein Auflegen als DJ hab ich viel übers Kuratieren gelernt.“
Edna Martinez: Die HKW-Musik-Chefin will Entertainment mit Bildung
Schon in den Vorjahren hat Martinez in Berlin Veranstaltungen organisiert. Sie wollte ihre Tanzgruppe im Kontext von Live-Musik präsentieren. Mit DJ Nomad begann sie dann auch, die Picó-Soundsystemkultur nach Berlin zu tragen. Ein anderes ihrer Events heißt Latin Arab. Die Idee: südamerikanische und arabische Communitys zusammenzubringen. Martinez verweist darauf, dass es auch in Kolumbien eine große arabische Population gebe, vor allem an der Küste. „In Berlin gibt es sehr viele Räume für elektronische Musik. Aber für andere Musikrichtungen gibt es nicht so viele Orte. Das lässt sich noch deutlich verbessern.“ Auch in solchen Sätzen schimmert ihre Vision für das HKW durch.
Wer das HKW-Musikprogramm unter der vorherigen Intendanz kennt, weiß: Konzerte auf der Dachterrasse sind kein Novum. Die gab es auch reichlich beim Wassermusik-Festival. „Es ist für uns wichtig“ sagt Martinez, „anzuerkennen, dass es auch vorher am HKW schon ein bedeutendes Festival gab, das sein Publikum gefunden hat. Wir schaffen etwas Neues, aber bauen darauf auf. Dabei wollen wir auch interdisziplinärer arbeiten.“ Heißt: viel Abstimmung mit den anderen aus Ndikungs Kurationsteam. Martinez wünscht sich, dass die HKW-Besucher länger bleiben: nicht nur für ein Konzert, nicht nur für einen Film. „Es gibt viel im Haus zu entdecken. Ein DJ-Set kann einen Kontrast zu einem Film bieten. Andererseits gibt es Schnittflächen. Das ergänzt sich und macht es umso aufregender.“

Der erste Schwerpunkt, den sich Martinez ersonnen hat für die Saison 2023, heißt Congorama. Auch fürs Sonic Pluriverse Festival, quasi den Nachfolger der Wassermusik. Es geht um drei Orte, die das Wort Kongo im Namen tragen. In Afrika, in Venezuela und in New Orleans. „Sie sind durch die Geschichte verbunden“, sagt Martinez. „Das ist ein transatlantischer Dialog. Es geht auch um Kolonisierung und Versklavung. Die Leute können bei uns etwas dazulernen – und dann auch die Gegenwart neu überdenken.“ Eine Balance aus Bildung und Entertainment. Und auch beim Line-up will Martinez fein abwägen: „Es gibt zu wenige Frauen oder überhaupt nicht-männliche Menschen in der Musik. Es ist wichtig, auch zu fragen, wie wir das ändern können. Ohne beim Tokenismus zu landen, wo Menschen nur als Diversitätsalibi eingesetzt werden. Es ist nicht sinnvoll, einfach irgendwelche Frauen zu buchen, nur damit man Frauen im Line-up hat, nein, man muss sich schon die Mühe machen, die Menschen zu finden, die perfekt zum Konzept passen – und gleichzeitig auf die bestehenden Ungerechtigkeiten zu reagieren.“
Ein Stück weit lebt Edna Martinez immer schon in der Zukunft. Sie plant längst fürs nächste Jahr. Absagen, Lösungen finden, mit dem Budget klarkommen, technische Details abstimmen. „Wir merken, dass ein neues Publikum kommt“, sagt Martinez. „Das liegt auch an den Formaten. Es gibt hier am Haus schon lange Konzerte auf der Dachterrasse. Aber diesmal gibt es danach Partys in der Weltwirtschaft, in unserem Restaurant mit Discokugel und Dancefloor. Viele blieben bis zum Schluss um zwei – soweit ich gehört habe und auch soweit ich mich erinnere.“ Dann wieder dieses herzliche Martinez-Lachen. „Auch privat muss ich unbedingt tanzen gehen“, sagt sie. Wenn ich einen DJ um drei Uhr morgens unter der Woche unbedingt erleben will, dann stell ich mir schon mal den Wecker auf morgens um zwei.“ Redundant zu sagen, dass diese Frau für die Musik lebt. Und wenn wieder mal ein DJ ausfällt, ist Edna Martinez sicherlich bereit, hinter die Turntables zu steigen.




