Ihr letzter Moment der Stille, erzählt die Dirigentin Alondra de la Parra, war am Sonntag. „Ich war am Strand an der Westküste Frankreichs. Ich bin eine sehr aktive Person, wir sind gerannt und haben Tennis gespielt. Am Ende kam aber ein Moment, in dem ich gesagt habe: Können wir uns einen Augenblick hinsetzen und still sein? Das waren vielleicht drei Minuten, aber ich sehne mich nach diesen Momenten.“
Schaut man sich den Lebenslauf der Dirigentin an, ist es nicht erstaunlich, dass stille Momente ausgekostet werden müssen. Die Liste der Orchester, mit denen sie zusammengearbeitet hat, ist lang und enthält klangvolle Namen wie das Orchestre de Paris, die BBC Philharmonics, die Bamberger Symphoniker oder das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Sie war Generalmusikdirektorin des Queensland Symphonic Orchestra im australischen Brisbane und reist weiterhin unermüdlich um die Welt.
Im Gespräch mit de la Parra wird schnell klar, mit welcher Energie sie dieses Pensum bewältigt: Sie beherrscht das Kunststück, gleichzeitig lässig und hochkonzentriert zu wirken. Ihr schnelles Englisch ist voller Melodien und Klänge: „Zuerst war ich New Yorkerin, was – ba-ba-ba-ba-bam – so schnell ist“, sagt sie etwa über ihre frühe Kindheit. Auch das Aufwachsen in einer der größten Städte der Welt, in Mexiko-Stadt, fügt ihrem Lebenslauf nicht nur einen weiteren Superlativ hinzu, sondern liefert auch einen Hinweis, woher ihre Fähigkeit kommen könnte, anscheinend jederzeit den Überblick über drei verschiedene Gedankenstränge zu behalten.
„Jede Stille muss so ernst genommen werden wie der Klang“
Für die Musik allerdings, erklärt de la Parra, sei die Stille so wichtig wie für sie selbst. „Wenn innerhalb einer musikalischen Phrase eine Stille vorkommt, eine Viertel- oder eine Achtelpause oder sogar noch länger, kann diese Stille verschiedene Arten haben: Sie kann ein Atemholen sein, oder ein Vakuum, eine Leere. Eine Stille kann sich anfühlen, wie gegen eine Mauer zu krachen – oder nur die Nachwirkung von Klang sein. In einer spannungsvollen Stille wartet man darauf, was als Nächstes kommt. Jede Stille muss so ernst genommen werden wie der Klang.“
Obwohl sie seit fünf Jahren in Berlin wohnt, gibt sie das Interview für die Berliner Zeitung per Videoanruf aus Paris, wo sie nur eben einige Meetings habe, wie sie achselzuckend bemerkt. Bald geht es für sie wieder zurück, um am 13. September im Admiralspalast einmalig „The Silence of Sound“ zu dirigieren – eine Kombination aus Orchestermusik, Videoprojektionen und einer Clownin namens Chula (Gabriela Muñóz). Letztere ist das stille Element in diesem Konzertabend. Der Klang des Orchesters und aufwendig animierte Videoprojektionen erzählen gemeinsam die Geschichte dieser stummen Hauptfigur, die sich unter anderem unter Wasser wiederfindet und in eine Geige verliebt. De la Parra will mit diesem Abend eine Einladung aussprechen, sich der klassischen Musik zu nähern und das Orchesterrepertoire kennenzulernen. Dazu hat sie gemeinsam mit Muñóz klassische Stücke von Komponisten wie Debussy, Strawinsky und Brahms ausgewählt und sie zu einer Erzählung verwoben, in der sich Kinder genauso wie Erwachsene wiederfinden können sollen. „Du wirst lachen, du wirst weinen, es wird dich an Momente aus deinem Leben erinnern und … autsch!“ ist de la Parras Versprechen an das Publikum.
Auch ihre eigene Geschichte hat die Dirigentin mit dem Konzertabend verwoben. „Wir sind beide Außenseiterinnen, so fühlt es sich zumindest für mich an“, erzählt sie über die Zusammenarbeit mit der Clownin Chula. „Die Clownin ist die Zuspitzung des Außenseiters, deshalb brauchen wir sie. Eine Dirigentin ist im Orchester auch eine Außenseiterin: Wir sind nicht Teil der Gruppe, wir erzeugen den Klang nicht selbst. Wir sind Anführer, wir sind herausgehoben und werden am meisten gelobt und am schärfsten kritisiert. Wir werden am meisten geliebt und am meisten gefürchtet. Wir sagen das, was niemand sagen will – und der Clown, der Narr, der Harlekin macht dasselbe. Es gibt viele Parallelen zwischen uns, auch in unserer Situation als Frauen: Gabriela ist eine Clownin – und die meisten Clowns sind Männer. Ich bin eine Dirigentin, die meisten Dirigenten sind Männer. Gabriela kann das sagen, was ich in meinem Herzen gerne schreien würde.“
Alondra de la Parra fühlt sich als Außenseiterin, das spornt sie an
Dass sie sich als Außenseiterin fühlt, scheint de la Parra aber eher anzuspornen, ganz bei sich zu bleiben und die klassischen Vorstellungen, wie Dirigenten auszusehen haben, zu unterlaufen. „Wir Dirigenten sollen diesen Maestro-Anzug tragen, auf eine bestimmte Art gehen und sprechen.“ De la Parra ahmt im Sitzen einen breitschultrigen, wichtigtuerischen Gang nach und sagt gravitätisch „ta-ta-ta“. Das habe sie nie erfüllen wollen. In der Show gebe es auch eine kleine Parodie dieser klassischen Dirigenten-Haltung, erzählt sie weiter und spielt vor, wie die Clownin einen Hemdkragen geschenkt bekommt und kurz zu einer kleinen Tyrannin wird.
„Ich fand dieses Maestro-Syndrom immer extrem unnötig. Wir sind Künstler. Wir sind da, um zu kommunizieren. Wenn du Theater- oder Filmregisseure anschaust, sehen die alle verschieden aus. Es gibt nicht die eine bestimmte Art zu sprechen oder zu gehen. Bei Dirigenten schon, und das steht der wahren Person im Weg, dem Künstler, Musiker, den Verbindungen, die mir wichtig sind. Und wenn jetzt Frauen diesen Anzug tragen, wird das noch seltsamer: Bei Männern sieht das schon komisch aus, aber bei Frauen ist es noch künstlicher. Ich habe immer versucht, meine eigene Körpersprache und auch meine eigenen Worte zu finden, die tatsächlich meine und ehrlich sind.“






