Literatur

Wo der „Judenschein“ eine VIP-Karte ist: Deborah Feldman über den deutschen „Judenfetisch“

Deborah Feldman, die Autorin von „Unorthodox“, nähert sich in ihrem Essay „Judenfetisch“ auf anregende Weise dem zwanghaften deutschen Verhältnis zum Judentum.

Die Autorin Deborah Feldman
Die Autorin Deborah FeldmanAgencia EFE/imago

Vor ein paar Jahren erschien in der Zeitschrift Vice ein Artikel mit der Überschrift „Judenfetisch“. Eine junge Frau aus Israel beschrieb darin, wie ihre deutschen Tinder-Bekanntschaften auf die Tatsache abfuhren, dass sie Jüdin ist, dass einer den Kontakt abbrach, als sie ihm sagte, dass ihre Vorfahren Deutschland bereits vor dem Holocaust verlassen haben, dass einer ihr eröffnete, es sei sein Traum, eine Jüdin zu schwängern.

„Judenfetisch“ ist auch der Titel des neuen Buchs von Deborah Feldman, die mit ihrer 2016 auf Deutsch erschienenen Autobiografie „Unorthodox“ bekannt wurde, und nicht erst, seit Netflix eine Miniserie daraus gemacht hat. Sie beschrieb darin ihr Aufwachsen in einer ultraorthodoxen chassidischen Gemeinde in Williamsburg, New York. Sie war von Satmarer Juden aus dem ungarisch-rumänischen Grenzgebiet gegründet worden, die den Holocaust überlebt hatten. Eine Parallelwelt, die sich gegen jede Veränderung stemmt, in der die Frauen fast jedes Jahr ein Kind bekommen und die Jungen in der Schule nichts als die Thora lesen. Aus dieser Welt ist Deborah Feldman ausgebrochen, da war sie 23 und hatte einen kleinen Sohn. Es ist wichtig zu wissen, dass die Autorin diese schwere „Überdosis“ Judentum bekommen hat, wie sie es nennt, wenn man sich ihrem neuen Werk nähern möchte, dass sie säkular geworden ist und sich schon deshalb fragt, worin ihr Jüdischsein überhaupt noch besteht. Oder warum Israel sie anzieht, obwohl sie antizionistisch aufgewachsen ist, also mit einer Ablehnung dieses Staates.

„Judenfetisch“ ist ein autobiografischer Essay, in der Ich-Form geschrieben, oft schildert Deborah Feldman Begegnungen, gibt Gespräche wieder. Das ist ganz leicht zu lesen, diese angelsächsische Tugend des Schreibens hat die Autorin auch nach all den Jahren in Deutschland nicht verloren. Es ist eine trügerische Leichtigkeit, denn die hier beschriebene Suche nach jüdischer Identität, nach der Antwort auf die Frage, was diese Identität – in Deutschland, in Israel, in den USA – überhaupt bedeutet, ist hochkomplex. Und um es gleich zu sagen: Es gibt keine Antwort darauf, keine steilen Thesen, nur Versuche von Antworten, Überlegungen dazu, denen man gern folgt, die neue, anregende Perspektiven bieten. Diese Antwortlosigkeit, dieses Suchen und Tasten, verleiht diesem Buch seinen Reiz und zugleich eine besondere Ernsthaftigkeit, in Zeiten, in denen Identität auf immer höhere Sockel gestellt wird oder eben fetischisiert, wie Deborah Feldman es sagt.

Letztlich ist ein Judenfetisch auch bei Feldman selbst zu diagnostizieren

Oder es gibt verschiedene Antworten, und das ist ein Zeichen dafür, auf welch unsicherem Identitätsgrund Deborah Feldman steht. Mal ist die jüdische Identität ein Teil von ihr, dann schreibt sie, diese existiere nur im Akt der Zuschreibung, die sie in Deutschland erdulden müsse. Hier stellt sie die Verbindung zur Zeit des Zweiten Weltkriegs her, als Menschen ebenfalls keine Wahl hatten, ihre Identität selbst zu bestimmen. Etwas, das sie in überraschender Kritik an Identitätspolitik auch in der Gegenwart verortet, da einem „im Namen der Wertschätzung und der Pluralität immer noch Identitäten auferlegt würden“. Dabei habe sie in Berlin nur Mensch unter Menschen sein wollen, Berliner unter Berlinern.

Vielleicht war es eine Enttäuschung, dass das nicht möglich war, sondern sie stattdessen das Jüdische hervorheben sollte. Deborah Feldman sieht sich in Deutschland mit einer zwanghaften Besessenheit konfrontiert, was das Jüdischsein angeht. Ihr entgeht nicht die Ironie, dass in Deutschland plötzlich alles, was vorher einen Nachteil für sie bedeutet hat, ein Vorteil ist. Der „Judenschein“, wie sie es nennt, der einst Menschen in Lebensgefahr brachte, funktioniere in Deutschland heute wie eine VIP-Karte, öffne Türen.

Deborah Feldman fragt nach der jüdischen Identität ohne Religion und kommt zu dem Schluss, es gebe dann nur entweder Israel oder den Holocaust. Anders als der Historiker Michael Wolffsohn, der langfristig das Ende der Diaspora prognostiziert und eine Konzentration jüdischen Seins in Israel kommen sieht, glaubt Feldman, dass die meisten Juden, die außerhalb Israels auf die Welt kommen, zunehmend davon absehen, Israel zu ihrem Hauptidentitätsanker zu machen, sich aber gleichzeitig auch immer weiter vom Holocaust entfernen. Was bleibt dann? Tradition, ja, aber das reiche nicht, befindet Feldman.

Ein Buch zum richtigen Zeitpunkt, so kurz nach dem Fall Fabian Wolff

Es ist ein Buch zum richtigen Zeitpunkt, so kurz nach dem Fall Fabian Wolff, der als Journalist tätig war und sein Jüdischsein erfunden hatte. Auf ihn scheint der Begriff Judenfetisch perfekt zu passen. Einer Art Fabian Wolff ist Deborah Feldman sogar einmal persönlich begegnet, bei einer Party in ihren ersten Monaten in Berlin, die Stadt, in der sie „erstaunlich sesshaft“ geworden sei. Es ist ein junger Mann, der sich als deutscher Jude ausgibt, angeblich fließend Hebräisch spricht und Israel liebt, bis sich herausstellt, dass es sich um einen Hochstapler handelt, woraufhin er aus ihrem Leben verschwindet und nach einiger Zeit als Journalist mit heftiger Israel-Kritik wieder auftaucht. Ein Freund von ihr habe den Fall mit dem Wort „klassischer Judenfetisch“ kommentiert. Dieses Wort sei bei ihr hängen geblieben.

Der Begriff Fetisch hat nicht unbedingt eine negative Konnotation, aber für Deborah Feldman schon. Sie nennt es ein gemeines Wort. Es habe etwas Herablassendes, Entwertendes. Wenn sie an diesen verwirrten jungen Mann denkt, der sich als Jude ausgab, „verloren auf seinem Lebenspfad und hungrig nach moralischen Antworten“, dann findet sie, dass ein Judenfetisch eigentlich den Träger zum Opfer erklärt. Und wenn man wie Deborah Feldman diesen Fetisch nicht nur als individuelle Marotte, sondern als spezifisch deutsches Phänomen eines zwanghaften Umgangs mit Juden betrachtet, dann sagt diese Begegnung etwas Allgemeingültiges über das deutsch-jüdische Verhältnis.

Überhaupt die deutschen Juden, das Verhältnis der Deutschen zu diesen, das Verhältnis der Deutschen zu Israel. Deborah Feldman richtet einen unerschrockenen Blick auf all diese Projektionsflächen, auf den deutschen Judenfetisch. Sie entdeckt Entlastungsjuden, die es den Deutschen bequem machen sollen, Papierjuden aus Osteuropa, Transjuden und konvertierte Juden, hier erwähnt sie den Fall des Rabbiners Homolka, auf den sie näher eingeht, und sie zitiert eine Freundin, die sich fragt, ob es vielleicht genau das ist, was die Deutschen wollen: Ein Judentum ohne Juden. Feldman entgeht wie anderen vor ihr nicht das performative Element, das beispielsweise in den Begriffen „Bühnenjuden“ oder Kostümjude zum Ausdruck kommt. Es äußere sich nicht nur beim Holocaust-Gedenken, sondern überhaupt im Verhältnis zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und den deutschen Juden. 

Der beliebteste deutsche Jude

Deborah Feldman nennt seinen Namen nicht, aber der Mann, den sie den beliebtesten Juden dieses Land nennt, ist unschwer als Michel Friedman zu erkennen. Seine Beliebtheit, so interpretiert es Feldman, verdanke er der Tatsache, dass er Kind von Schindler-Geretteten ist, also Beweis dafür, dass es auch gute Deutsche gab. Gleichzeitig tue Friedman den Deutschen den Gefallen, ihre antisemitischen Vorstellungen vom von Trieben und sinnlichem Exzess geprägten Juden zu erfüllen. Dabei erinnert Feldman an den Vorfall mit dem Kokain und den Prostituierten und vergisst nicht zu erwähnen, dass es in einem Land, in dem Prostitution legal ist, verschleppte ukrainische Prostituierte waren, mit denen Friedman sich umgab. Und trotzdem sei er beliebt geblieben. Maxim Biller, ebenfalls nicht namentlich genannt, kriegt nicht nur sein Fett weg, sie verrät auch eine Anekdote, die ihn recht jämmerlich erscheinen lässt.

In der Reduktion aufs Anekdotische wird Deborah Feldman natürlich beiden nicht ganz gerecht. Ist das boshaft oder nur Ausdruck grenzenloser Verblüffung über den deutschen Judenfetisch? Man darf auf die Reaktionen zu diesem Buch gespannt sein.

Deborah Feldman: Judenfetisch. Luchterhand, München 2023. 272 Seiten, 24 Euro

Die Buchpremiere findet am 4. September um 19.30 Uhr im Renaissance-Theater Berlin,  Knesebeckstraße 100, statt. Tickets gibt es auf der Webseite des Theaters.