An dem Tag, an dem ich mit Max Czollek sprach, war mein Vater zu Besuch in Berlin. Einige Tage zuvor war die AfD in Deutschland laut der letzten Umfragen zweitgrößte Partei geworden. Diese Nachricht hatte auch das Heimatland meines Vaters erreicht, er lebt in Israel. Er, Sohn zweier Holocaust-Überlebender, verfolgt diese Nachrichten mit Sorge. Bekümmert fragte er mich: Bist du sicher, Tomer? Nachdem ich ihn beruhigt hatte, dass Deutschland heute ganz anders ist, brachte ich ihn zum Flughafen und befragte anschließend Max Czollek zu seiner Diskussionsreihe „Versöhnungstheater“ im Haus der Kulturen der Welt; der erste Termin ist am 9. Juli und sein erster Gast ist Shermin Langhoff, die Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters.
Was verbindet Ihre Gäste miteinander? Warum haben Sie diese ausgewählt?
Alle beschäftigen sich mit der Vergangenheit und damit, wie diese in der Gegenwart wirkt. Wir haben Perspektiven von Afro-Deutschen, jüdischen Deutschen, Österreichern, Menschen aus der Welt der Literatur, des Theaters, der Wissenschaft, denn wir wollen dieses Thema so breit wie möglich ausleuchten. Es ist kein Zufall, dass unser erster Gast eine Intendantin ist, die das Theater als einen Ort der Intervention in die etablierte Vorstellung versteht, die die Gesellschaft von sich selbst hat.
Welche Themen erwarten das Publikum?
Es ist bis heute so, dass wir die deutsche Erinnerungskultur als eine deutsch-deutsche Generationengeschichte erzählen, bei der vor allem die westdeutschen Nazi-Kinder ihre Nazieltern gefragt haben: Was habt ihr gemacht? Warum habt ihr keine Verantwortung übernommen? Das waren die sogenannten 68er. Mit der sogenannten Wiedervereinigung wurde diese Phase der Erinnerungskultur dann zur Grundlage dafür erklärt, wieder stolz auf Deutschland zu sein; die Symbole dieser Wiedergutwerdung – ein Wort von Eike Geisel – finden sich allerorten: Bei der WM 2006 als Deutschlandfahne, beim Heimatministerium oder dem Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses. Allein, es leben noch ganz andere Menschen in Deutschland, die mit dieser deutsch-deutschen Generationenerzählung nichts zu tun haben.

Was hat sich dadurch verändert?
Diese Menschen tauchen in der dominanten Erzählung der deutschen Erinnerungskultur nicht auf. Und vielleicht betrifft dieser Ausschluss nicht ganz zufällig diejenigen, die die Kontinuität rechter Gewalt physisch und bürokratisch am direktesten spüren. Die Idee, dass das rechte Denken nach 1945 bewältigt worden ist, die ja im Zentrum der behaupteten Wiedergutwerdung Deutschland steht, wird von ihnen ganz anders beantwortet. Um diese anderen Blicke geht es mir in der Gesprächsreihe. Das ist angesichts von deutschlandweit knapp 20 Prozent für die AfD absolut notwendig.
„Geheimnis der Erlösung ist Erinnerung“ – Sie kritisieren diesen Satz und diesen Ansatz des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Wollen Sie mit Ihren Gästen diskutieren, ob es überhaupt eine legitime Art von Erlösung gibt und worin diese bestehen könnte?
Oh ja, wobei ich bei der Idee der Erlösung ohne die Herstellung von Gerechtigkeit sehr skeptisch bin. Aber es existieren seit 1945 andere Bewältigungsstrategien, man muss nur den Blick dafür frei bekommen. Es gibt eine jüdische Reaktion auf die Kontinuitäten rechter Gewalt und die Shoah in Deutschland. Es gibt Reaktionen von Sintize und Sinti, von Romnja und Roma, von migrantisierten Menschen, von Afro-Deutschen und schwarzen Deutschen auf die Gewalt, die sie auch nach 1945 erlebt haben. Ich möchte dafür plädieren, all das als Formen einer widerständigen Erinnerungskultur zu verstehen, als einen Versuch, die Gegenwart so einzurichten, dass die Vergangenheit sich nicht wiederholt. Das existiert alles schon, das erfinden wir nicht, dafür müssen wir uns keine neuen Lösung ausdenken, sondern es muss erst mal darum gehen, bestehende Traditionen sichtbar zu machen, die in der staatlichen Erzählung der deutschen Wiedergutwerdung normalerweise nicht vorkommen.
Welches Publikum wünschen Sie sich?
Von mir aus kann ganz Berlin hinkommen! Der entscheidende Punkt der Kritik an einer Dominanzkultur ist, dass man sich bewusst macht, dass die Inszenierung des Versöhnungstheaters nur für bestimmte Leute gemacht worden ist, dass die Dramaturgie der Inszenierung, die auf Versöhnung und Normalisierung hinausläuft, nicht Ausdruck aller Deutschen ist. Dagegen möchte ich einen Raum öffnen, in dem auch diejenigen willkommen sind, die ganz genau wissen, dass die Kontinuität rechter Gewalt ihre Communities trifft, und in welchem Verhältnis diese Kontinuität zu den symbolischen Gesten der Wiedergutwerdung steht.
Sind Sie mit diesen Veranstaltungen nicht auch Teil des Versöhnungstheaters?
Das ist eine Frage, die uns seit dem Desintegrationskongress am Maxim-Gorki-Theater beschäftigt, und dass wir die Reihe mit Shermin Langhoff aufmachen, ist eine Art Handshake zwischen dem postmigrantischen Theater, der postmigrantischen jüdischen Kritik, die wir damals entwickelt haben und dem, was jetzt im Haus der Kulturen der Welt mit seiner neuen Intendanz beginnt. Ich glaube, dass wir in den letzten Jahren gute Strategien entwickelt haben, die eine Eingemeindung verhindern, so etwas wie jüdische Rache oder Wut. Denn Rache und Wut lassen sich nur schwer in die Dominanzkultur integrieren. Aber es gibt eine Dimension, die sich dieser Intervention entzieht, da mache ich mir keine Illusionen: Dass Juden und Jüdinnen in Deutschland leben, gilt ja vielen bereits als Bestätigung der Gutwerdung dieses Landes, nach dem Motto: Wo Juden leben, können keine Nazis sein. Dagegen kann man gewissermaßen nichts tun. Aber dann ist das so. Mir geht es um einen Paradigmenwechsel hin zu einer pluralen Gegenwart, die eben auch eine andere Form der Betrachtung von Erinnerung, von Aufarbeitung braucht, nämlich eine plurale Erinnerungskultur. Ich freue mich auf alle, die da mitdenken und mittun möchten.


