Fast hätten wir es schon wieder vergessen bei all den Kriegen, Klima- und Machtverschiebungen auf dieser Welt: Täglich sterben bis zu 150 Tierarten aus, weshalb wir uns – nach Asteroideneinschlägen und Naturgroßkatastrophen in archaischer Vorzeit – derzeit im sechsten Massenartensterben der Erdgeschichte befinden. Diesmal nicht initiiert durch die Natur selbst, sondern vom Menschen, Meister der Selbstzerstörung.
Armes, dummes Wesen!, kann man da mit den putzigen, lilahaarigen Humanoiden schon sagen, die Yael Ronen in ihrer neuen Uraufführung auf die Gorki-Bühne ruft. Sie kommen direkt aus der Zukunft, 40 Millionen Jahre weit weg und ein paar galaktische Evolutionsstufen weiter. Die pure Neugier treibt sie an zu verstehen, was diese dummen Menschen einst so auf der Erde trieben und warum sie sich auch noch selbst eliminierten. Immerhin, ein interessantes Forschungsobjekt geben sie noch ab, auch wenn die fossilen Erdfunde ihre Nachfolger vor Rätsel stellen. Wie soll man aber als Superintelligenz, die sich nur noch photosynthetisch ernährt, via Gedankenübertragung kommuniziert und mittels Teleportation bewegt, auch erkennen, dass ein fossiles Handy keine Miniatur-Grabkammer der Menschen war, sondern ein relativ plumpes Ding zur Unterhaltung?
Yael Ronen und ihr Co-Autor Itai Reicher haben mit „Planet B“ aus dem hochaktuellen Umweltthema kein Drama gepresst, sondern ganz im leichten, Ronen'schen Ver- und Entwicklungsdrive eine hintersinnig witzige SciFi-Komödie ersponnen. Der irritierte Blick zurück aus der fernen Zukunft ist dabei ein Stilmittel, das sie mit durchaus vielen umweltbesorgten Theaterautorinnen und -autoren teilen, wie kürzlich bei den Autorentheatertagen am Deutschen Theater zu sehen war. Wirklich besonders und raffiniert aber wird dieser Abend durch einen Kniff, der ihn in eine doppelt fiktionalisierte Verschachtelung packt und der tollen Besetzung zugleich schöne Narrenfreiheit gibt.
Die forschenden Lilaköpfe nämlich haben Schriften auf der Erde gefunden, die von einem scheinbar bedeutenden Chronisten namens Max Schrammel stammen, Mitglied einer gesamtschulischen „Unterstufen-AG“ in Bottrop, die sich „Kreatives Schreiben“ nennt. Diese Notizen geben nicht nur Auskunft über ein seltsames Ritual namens „Theater“, unter dessen Deckmantel man einst offenbar ausgiebig lügen durfte und sich trotzdem bestens dabei verstand. Wichtiger noch scheint ein Essay namens „Hausaufgaben“, der die Geschichte des großen Aussterbens im 21. Jahrhundert bildreich beschreibt. Schrammel zufolge war es Teil einer von einfallenden Aliens angelegten, galaktischen Rating-Show, die die Humanoiden nun zum besseren Geschichtsverständnis noch einmal nachstellen wollen: mithilfe des „Theaters“.
Auch Superintelligenzen also sind vor grandiosen Fehlschlüssen nicht gefeit. Und genau diese Irrungen und Wirrungen, in denen Rand und Mitte, Ursache und Wirkung, vor allem aber sämtliche gesellschaftlichen Themen und Diskurse aufs schönste durcheinanderfliegen und dabei inhärent feststeckende Wahrheiten entfesseln, ist das, was das Ronen-Theater so aufgeweckt, witzig und überaus menschlich macht. In ihren grauen Space-Anzügen schieben sich die sieben Humanoiden zunächst noch schüchtern über die schiefe Globusscheibe, die Wolfgang Menardi als hippe planetare Showbühne konstruiert hat, eingetaucht in immer wieder bombastisch aufloderndes Video- und Lichtdesign. Bald aber schält sich das Luxus-Ensemble aus dem Einheitsgrau, und jeder tritt als Vertreter einer bedrohten Art ein letztes Mal in die Arena zum Profilierungskampf.
Oder auch nicht, denn der suizidale Panda von Maryam Abu Khaled hat mittlerweile das Maul gestrichen voll vom endlosen Überleben, weshalb er sich gleich ganz hinten auf die Bank verkriecht, anders als Orit Nahmias aufgeregtes Huhn, das sein Leben lang als Fastfood verheizt wurde und sich endlich Wertschätzung erhofft. Die feministische Stadtfüchsin Alexandra Sinelnikova versucht sich dagegen geschmeidig in alles einzufügen, während Aysima Ergüns Ameise mit nervösem Zucken die Lage checkt und auf Order wartet.
Jonas Dassler hängt sich als ängstliche Nick-Cave-Fledermaus kopfüber an einen Haken und gibt eine wunderschöne Nacht-Rockballade zum besten, und Dimitrij Schaad fletscht als toxisch männliches Reptil die breiten Zähne. Bleibt noch Niels Bormann, der, wie könnte es anders sein, der unverbesserlich inkonsequente Homo Sapiens ist, der wir alle sind: selbstherrlich und feige zugleich. Doch sie alle erzählen am Ende natürlich viel mehr über Menschen als über irgendein Tier. Zweifellos ist genau das auch das eigentliche Problem der Natur. Fürs Theater aber ein Glück.


