Internationales Literaturfestival Berlin

Lavinia Frey: „Wie schaffe ich es, einen Rahmen zu geben, der nicht ausbeuterisch ist?“

Das Internationale Literaturfestival Berlin (ilb), eines der großen Kulturereignisse in der Stadt, wird kleiner. Ein Gespräch mit der neuen Chefin.

Lavinia Frey, die neue Leiterin des Internationalen Literaturfestivals Berlin, beim Fototermin an der Hasenheide
Lavinia Frey, die neue Leiterin des Internationalen Literaturfestivals Berlin, beim Fototermin an der HasenheideMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Im September steht die Stadt zum 23. Mal im Zeichen des Kommas, wenn das Internationale Literaturfestival Berlin (ilb) stattfindet. Es hat seit Beginn das kleine und oft so entscheidende Satzzeichen als sein Symbol. Erstmals findet das Festival unter der Leitung von Lavinia Frey statt, die im Mai den Gründungsdirektor Ulrich Schreiber abgelöst hat. Wir sprachen mit ihr, bevor am Donnerstag das Programm veröffentlicht wird und der Kartenvorverkauf beginnt.

Frau Frey, war es eine Freude, diese Arbeit als Chefin des Literaturfestivals anzutreten oder eine Bürde?

Es ist vor allem eine große Ehre. Weil eine besondere Tradition mit diesem Festival verbunden ist. Es ist bedeutsam für viele Autorinnen und Autoren, die aus vielen Teilen der Welt hierherkommen. Und es ist ein großes Geschenk, mit diesem wunderbaren Team zusammenarbeiten zu dürfen.

Sie erwähnen gleich das Team – das klagte zuvor über das Arbeitsklima und die Belastung. Im vergangenen Jahr wurde ein Brief an die Senatsverwaltung für Kultur öffentlich, gegenwärtige und ehemalige Mitarbeiter wandten sich an die Presse. Der Rücktritt des Festivalgründers Ulrich Schreiber als Direktor im Frühjahr dürfte damit im Zusammenhang gestanden haben. Waren die Sorgen des Teams also das erste Thema für Sie?

Das ilb hat diese starke Gründerfigur, mit der es lange sehr eng verbunden war. Aber das Festival hat auch eine eigene Kraft entwickelt, es ist Teil dieser Stadt. Und dann loszulassen und zu verstehen, dass es sich weiterentwickeln und weiterwachsen wird, ist richtig und gut. Das Team hat diesen Change-Prozess verstanden und alles dafür in die Wege geleitet. Was ich einbringen kann, sind meine Expertise, meine Fähigkeiten, meine Begeisterung, um das zu unterstützen und zu steuern. Aber wir tun das gemeinsam.

Seit wann verfolgen Sie das ilb?

Seit 22 Jahren. Ich bin nach Berlin gekommen, als das Literaturfestival begonnen hat. Ich kann mich sehr gut an die ersten Ausgaben erinnern.

Für Ulrich Schreiber wird es eine Festveranstaltung geben.

Ja, am Sonnabend, den 9.9. Das ist selbstverständlich. Er hat Großes geleistet für das Festival. Es wird ein besonderer Abend, weil viele Weggefährtinnen und Weggefährten auftreten werden wie Wolf Biermann, Michi Strausfeld und Liao Yiwu. Im zweiten Teil des Festivals geht das Fenster auf und wir schauen in die Zukunft. Das Abendprogramm hat Simone Schröder kuratiert, zusammen mit Nora Mengel. Und Christoph Rieger, der seit mehr als zehn Jahren hinreißend das Kinder- und Jugendprogramm auf die Beine stellt, wird dabei unterstützt von Henrike Schmidt. Dafür gibt es durch die Kulturstiftung der Länder jetzt eine zusätzliche Förderung. Das, was wir beim ilb machen, ist: Leselust produzieren.

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Markus Wächter/Berliner Zeitung
Zur Person
Lavinia Frey, geboren 1969 in Hamburg, arbeitete als Regisseurin, Choreografin und Dramaturgin u.a. am Schauspielhaus Zürich, Maxim-Gorki-Theater Berlin und Staatstheater Schwerin. 2007 war sie Mitgründerin und Geschäftsführerin der Kultur- und Konzeptagentur Graf & Frey. 2016 wurde sie als Vorstand Kultur der Stiftung Humboldt-Forum im Berliner Schloss und als Geschäftsführerin der Humboldt Forum Kultur GmbH berufen. 2018 bis 2023 leitet sie in der Stiftung Humboldt-Forum als Geschäftsführerin die Abteilung Programme und Projekte. Im April wurde sie als Direktorin des ilb berufen.

Das Internationale Literaturfestival Berlin
findet vom 6. bis 16. September vor allem in Berlin-Mitte und im Haus der Berliner Festspiele statt. Programm und Tickets auf https://literaturfestival.com/

Ich merke schon, Sie wollen den Blick wieder auf das Team richten.

Wenn man in der Rolle als Leitung steht, ist, abgesehen von den Visionen für die Inhalte und die Thematik, die wesentliche Frage: Wie schaffe ich es, einen Rahmen zu geben, der nicht ausbeuterisch ist? Also muss man auch auf die Menschen schauen, die als Volunteers das Festival unterstützen, dass die weniger Arbeitszeit haben, damit sie mehr vom Programm erleben können.

In meiner Generation hat man sich an die Selbstausbeutung in kreativen Berufen gewöhnt. Hat sich das inzwischen geändert?

Das Selbstausbeuterische kenne ich seit 30 Jahren. Weil zu wenig Geld da ist, übernimmt jeder noch ein paar Aufgaben mehr – aber an irgendeinem Moment führt das zu einer großen Erschöpfung. Dann kann man auch nicht mehr inspiriert sein. Wir müssen uns fokussieren, Entscheidungen treffen. Auch in der Kultur gibt es einen Fachkräftemangel. Dadurch hat sich schon einiges verändert, den Menschen wird der Wert ihrer Arbeit stärker bewusst.

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Von Cornelia Geißler, Stefan Hochgesand

24.09.2022

Ulrich Schreibers Idee war, das Festival wie eine Berlinale der Literatur mit Sektionen zu gestalten. Bleiben Sie dabei?

Ja, die drei Hauptsektionen bleiben: Literaturen der Welt mit der Chance, internationalen zeitgenössischen Autorinnen und Autoren zu begegnen, Reflections, wo kluge Menschen wichtige Fragen so diskutieren, dass vielleicht wieder neue Sachbücher daraus entstehen, und die Kinder- und Jugendliteratur. Außerdem gibt es Specials. Die Untergruppierungen haben wir aufgelöst.

Können Sie durch diese Reduzierung auch die Überstunden der Mitarbeiter begrenzen?

Festivals haben einen besonderen Charakter, das darf man nicht vergessen. Da ist man jeden Abend und auch an den Wochenenden unterwegs. Aber man ist dem nicht ausgeliefert. Wenn man solch ein Programm vorbereitet, stehen verschiedene Ressourcen zur Verfügung. Eine davon ist die Arbeitszeit. Wenn davon nicht genügend vorhanden ist, um alle Ideen umzusetzen, muss man eben etwas weniger machen. Und das Arbeitsschutzgesetz gilt auch für ein Festival. Da ist zum Beispiel eine Mittagspause vorgeschrieben, mit gutem Grund. Man muss dafür sorgen, dass die Ruhezeiten eingehalten werden. Außerdem sollte man schon vor dem Festival den Abbau der Überstunden danach im Blick haben.

Als Zuschauerin und Berichterstatterin hat mir der Überfluss an Veranstaltungen während des Festivals oft ein schlechtes Gewissen gemacht, weil ich zu wenig wahrnehmen konnte. Wie viel kleiner ist das Programm?

Wir haben ein Drittel weniger Veranstaltungen als letztes Jahr.

Üblicherweise werden auch bei „Leipzig liest“ und anderen Festivals Steigerungen der Gäste- und Veranstaltungszahlen als Erfolg vermeldet. Wie kommunizieren Sie nun die Reduktion?

Als Fortschritt. Denn Sie sagen es ja: Um was geht es hier eigentlich? Um einen Wettbewerb oder darum, dass das Publikum Freude an Entdeckungen und guten Gesprächen hat? Das wollen wir bieten. In kurzer Zeit kann man beim Literaturfestival Autoren und Autorinnen kennenlernen, deren Texte oft von exzellenten Sprechern und Sprecherinnen gelesen werden, nach einer Stunde geht man zur nächsten Veranstaltung, erlebt wieder eine Lesung und Gespräch und so geht es weiter. Da passiert etwas Magisches!

Sind Sie damit wieder im Haus der Berliner Festspiele?

Ja, in der zweiten Hälfte. Dann kann man diese Gleichzeitigkeit erleben, das Festivalleben. Und in den Tagen davor, von Mittwoch bis Sonntag, sind wir in Mitte an verschiedenen Orten: im Collegium Hungaricum, im Berliner Ensemble und an den beiden Standorten der Staatsbibliothek.

Sie kommen vom Humboldt-Forum. Haben Sie dort etwas gelernt, was Sie für die Arbeit jetzt nutzen können?

Ganz viel. Ich habe dort verstanden, dass man die Dinge immer auch anders sehen kann, insbesondere, wenn man international agieren möchte. Wir haben generell mit Fachleuten aus der jeweiligen Region gearbeitet, denn erst so ändert sich die Perspektive. Ich habe gelernt, keine Angst vor Teamarbeit zu haben. Es muss nicht alles Konsens sein, aber eine Gemeinsamkeit geben. Und so können wir uns auch für das ilb die Frage stellen: Sind nur wir hier und laden Leute für das Berliner Publikum ein oder bräuchte es nicht schon in der Kuration internationale Stimmen? Ein erster Schritt ist, dass wir Taqi Akhlaqi als Fellow für das Team gewinnen konnten dank dem Projekt „Weltoffenes Berlin“, einen Autor, der 2021 aus Afghanistan fliehen musste.

Worauf freuen Sie sich am meisten?

Diese Frage hat Uli Schreiber immer so beantwortet: Das würde dieses Interview sprengen. Das gilt weiterhin, weil jede Einladung ihren Grund hat. Ich persönlich freue mich auf Paolo Giordano, da ich gerade seinen Roman „Tasmanien“ gelesen habe. Ich bin gespannt auf das Projekt von Nino Haratischwili mit Literatur von den Küsten des Schwarzen Meers. Auf Lana Bastašić freue ich mich und natürlich auf Salman Rushdie.

Aber der kommt doch nicht?

Er wird online sprechen. Es ist sein erster Auftritt nach dem Attentat. Und ich finde sein neues Buch, „Victory City“, großartig. Ach, ich lese einfach gerne und durch das Festival tue ich das noch mehr.