Am Mittwoch beginnt das 22. Internationale Literaturfestival Berlin (ilb). Mehr als 150 Autorinnen und Autoren kommen in die Stadt, zu Begegnungen mit ihrem Publikum, zu Debatten, für Workshops mit Kindern. Auffällig sind verschiedene politische Schwerpunkte. Darüber sprachen wir mit dem Gründer und Festivaldirektor Ulrich Schreiber.
Herr Schreiber, das Programm des ilb enthält einige brisante Themen. Stimmen Sie dem Eindruck zu, dass es ein politisches Festival ist?
Vermutlich ist es das politischste aller internationalen Literaturfestivals. Gleichwohl sind etwa drei Viertel des Programms literarisch, wobei viele Autorinnen und Autoren ja politische Themen in ihren Romanen und Gedichten verhandeln. Fragen Sie mal Simone Schröder, die als Programmleiterin auch Kontakte zu den Verlagen hält. Und das Kinder- und Jugendprogramm, seit zwölf Jahren von Christoph Rieger gestaltet, wird jetzt wieder etwa zehntausend Schülerinnen und Schüler in die Schaperstraße zu Lesungen bringen. Obwohl ich derjenige bin im Team, der die politischen Themen weitgehend reinbringt, relativieren sie nicht den literarischen Gehalt des Festivals.
Vielleicht rührt der Eindruck von der Vielzahl der Brennpunkte her. Sind es mehr geworden?
Was sich in den letzten 30 Jahren nach Francis Fukuyamas Buch „Das Ende der Geschichte“ getan hat, ist unfassbar. Es werden tatsächlich Jahr um Jahr mehr Krisen. Und jetzt auch noch der Vernichtungskrieg Russlands in der Ukraine! Uns beschäftigt auch die woke Blase, die aus Amerika herüberschwappt. In einem Panel wird die Annäherung zwischen China und Russland analysiert. Das ist aus meiner Sicht eine Bedrohung für die westliche Welt und Demokratie – aber auch die Entwicklungen in der Türkei und Ungarn stimmen nicht gerade zum Optimismus. Fukuyama wird übrigens in einer Nachveranstaltung am Festival teilnehmen.
Und wie macht man solche Themen festivaltauglich?
Zum Beispiel mit dem Format der weltweiten Lesung, das wir uns 2006 ausgedacht haben. Dafür können Institutionen und Einzelpersonen an einem bestimmten Tag eine Lesung anmelden, die kann privat sein, in der U-Bahn oder einem großen Saal, um die Sache oder den Autor in den Blick zu rücken. In diesem Jahr, am 7. September, unserem Eröffnungstag, geht es um ukrainische Literatur. Nach dem Mordversuch an Salman Rushdie haben wir zu einer weiteren weltweiten Lesung seiner Bücher inklusive der „Satanischen Verse“ am 29. September aufgerufen. Die Frage, welche Themen wir wie in den Fokus bringen, beschäftigt uns naturgemäß. Bei der Diskussion um die Documenta ist unsere Antwort ein breit aufgestelltes Panel zum Thema: Was ist Antisemitismus?
War es schwierig, russische und ukrainische Autoren zusammen auf eine Bühne zu bringen?
Wir haben es versucht, doch russische und ukrainische Künstler treten in diesem Jahr leider nicht zusammen in einer Veranstaltung beim ilb auf. Die Politik des ukrainischen Kulturministeriums, Veranstaltungen mit russischen Künstlern zu boykottieren und Puschkin aus den Lehrplänen in den Schulen zu streichen, bleibt nicht ohne Eindruck auf die Künstler. Die Haltung des ukrainischen PEN ist immerhin, dass die Gegner Putins, die Gegner des Krieges in der Kulturszene Russlands, nicht boykottiert werden sollten. Sie leben ja zu einem nicht unbeträchtlichen Teil schon im Exil. Der Regisseur Sergej Loznitsa wurde aus der Ukrainischen Filmakademie ausgeschlossen, weil er vor vier Monaten in Nantes in Frankreich darauf bestand, zusammen mit russischen Filmemachern aufzutreten. Und das, nachdem er vorher aus der Europäischen Filmakademie ausgetreten war, weil ihm deren Statement zum Krieg zu schwach war.
Sie sprachen andere internationale Festivals an. Es gibt ja eines in Odessa, was Sie begründet haben. Was wird aus dem?
Das ilo wollen wir beibehalten. Wir möchten es am Schwarzen Meer weiterführen. Nicht in der Ukraine, weil Autorinnen und Autoren dort zu gefährdet sind. Es findet Anfang Oktober in Batumi, Georgien, statt. Wir werden u.a. von Medea Metreveli und Mitarbeiterinnen unterstützt, die 2018 den Schwerpunt Georgien in der Frankfurter Buchmesse vorbereitet haben. Finanziert wird es von der Jan Michalski Fondation und vielleicht auch vom Bundeskulturministerium, das dankenswerterweise ein neues Programm zur Förderung ukrainischer Kultur und Kulturschaffender aufgelegt hat.
Wie kam das überhaupt zu diesem Festival in Odessa?
Ich saß in Iasi, Rumänien, 200 Kilometer vom Schwarzen Meer, bei einem Literaturfestival mit dem ukrainischen Autor Andrej Kurkow und Hans Ruprecht, dem Leiter des Leukerbad-Literaturfestivals zusammen und fragte in die Runde: Sollen wir nicht die Möglichkeit eines Literaturfestivals in Odessa prüfen? Ich habe in den 70er-Jahren Russisch studiert, war sechs Monate im damaligen Leningrad, auch paar Monate in Moskau und Kiew, nicht aber in Odessa. Diese schöne Stadt ist ja literarisch geprägt, durch Isaak Babel, Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, unser diesjähriger Gast Ilya Kaminski wurde dort geboren, auch Boris Chersonskij. Selbst Puschkin war da. Zufälligerweise, wie es manchmal so ist, veröffentlichte das Auswärtige Amt zeitgleich das Programm „Ausbau der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft“. Durch dieses Programm und die Förderung der Stiftung Jan Michalski konnten die ersten fünf Festivals finanziert werden.
Stand das dann nicht gleich unter dem Eindruck politischer Spannungen?
Das ist richtig. Ende September 2015 war das erste Festival, und die russische Armee hatte schon die Krim erobert. Das Internationale Literaturfestival Odessa ist auch von jungen Aktivisten organisiert worden, die an den Maidan-Protesten teilnahmen.
Haben Sie die Hoffnung, dass man mit Literatur was erreichen kann?
Sie fragen: Nützt es etwas, Literatur zu lesen? Für den Einzelnen auf jeden Fall: Es ist eine Bereicherung des eigenen Seelen- und Geisteshaushalts. Ich bin mir unsicher, ob sich durch Literatur politisch etwas bewegen lässt. Aber da viele politische Entscheidungsträger Romane und Gedichte lesen – oder selbst schreiben wie unser toller Vizekanzler – hat sie einen guten, subkutanen Einfluss. Daran glaube ich.
Kürzlich hat der Schriftsteller Uwe Tellkamp den ehemaligen Politiker Thilo Sarrazin bei einer Buchpremiere unterstützt. Er hat da deutlich seinen Ärger über die Bundesregierung gezeigt. Erwarten Sie so etwas von ihm oder warum haben Sie ihn eingeladen?
Also erst einmal hat er mit dem „Turm“ ein Werk vorgelegt, das unbestritten literarisch als qualitativ hochwertig wahrgenommen worden ist. Und zweitens bin ich daran interessiert, dass nicht nur Autoren und Autorinnen kommen, die der grünen, linken Blase politisch entsprechen, sondern auch konservative Autoren, die dezidiert anders denken. Ich finde es ganz falsch, dass man Menschen ausgrenzt, die literarisch glänzen, nur weil sie konservativ sind oder, wie manche vielleicht sagen, reaktionär. Ich war froh, als Uwe Tellkamp zusagte, allerdings hat er mittlerweile wieder abgesagt. Das gedruckte Programm ist da nicht mehr aktuell.
Welche Autoren waren am schwersten zu bekommen? Worüber freuen Sie sich am meisten?
Die Aufzählung würde das Interview sprengen. Aber Zadie Smith und Margaret Atwood muss ich wohl nennen, weil ich es bei beiden immer wieder versucht habe. Ich freue mich über Abdulrazak Gurnah, den Nobelpreisträger, über Bernardine Evaristo, über Matthieu Aikens und Haris Vlavianos und viele, viele mehr. Die Vorbereitung war in diesem Jahr einigermaßen turbulent. Wir haben neben dem ilb auch das ilo in Batumi vorbereitet. Und dann mussten wir noch ein neues Büro suchen. Für unsere Räume in der Chausseestraße, wo wir 17 Jahre waren, sollten wir 120 Prozent mehr Miete zahlen. Das ilb findet live vor Publikum mit einem starken digitalen Programm statt, wieder im Haus der Berliner Festspiele mit seinen vielen Möglichkeiten und anderen Orten wie dem silent green.



