Internationales Literaturfestival Berlin

Zärtlichkeit inmitten von Krisen finden: Eine Zehn-Tage-Kur mit Literatur

Poesie als Geschichtserkundung, Romane als Mittel zum Verständnis des eigenen Ichs und der Welt. Ein Streifzug durch das Internationale Literaturfestival Berlin. 

Gedränge am Büchertisch im Haus der Berliner Festspiele
Gedränge am Büchertisch im Haus der Berliner Festspieleilb/Bernhard Ludewig

Eine Frau in einem weißen T-Shirt mit einem roten Komma darauf macht Zeichen in Richtung Bühne. Lea Streisand, die Schriftstellerin, die an diesem Abend als Moderatorin agiert, fragt: „Heißt das, uns bleiben nur noch zwanzig Minuten?“ Dem raunenden Publikum ruft sie zu: „Sie haben doch alle bestimmt nichts mehr vor, wir reden hier noch ein bisschen.“ Es ist Montagabend kurz nach 22 Uhr, ein mannsgroßes rotes Komma steht auch neben dem Podium auf der Hinterbühne des Hauses der Berliner Festspiele. Das Satzzeichen ist seit Gründung vor 22 Jahren das Symbol des Internationalen Literaturfestivals Berlin (ilb). Es hat sich wieder in der Stadt niedergelassen.

Am Tisch vorn sitzen fünf Frauen, es geht um die Bücher der Kolumbianerin Pilar Quintana und der Schweizerin Julia Weber, eine Schauspielerin als Vorleserin ist auch da und eine Spanisch-Dolmetscherin. Lea Streisand wirkt zwar etwas aufgeregt, ihre Fragen zeugen aber davon, dass sie sich ausführlich mit den Büchern beschäftigt hat. Mit genauen Formulierungen, in munterem Berlinisch vorgetragen, dringt sie in die Tiefe: Wie Frauen als Mütter Schriftstellerin bleiben, wie es die Kunst beeinflusst, ein Kind zu haben.

150 Autoren an 34 Standorten im Zeichen des Kommas

Wenn man zu dieser Lesungs- und Gesprächsrunde von der Probebühne kam, führte der Weg an einer fünfzig Meter langen Schlange vorbei. Die Menschen standen an, um sich von Bernadine Evaristo ihr neues Buch „Manifesto“ oder den Bestseller „Mädchen, Frau etc.“ signieren zu lassen. Und unten im Foyer, wo Dussmann einen breiten Büchertisch aufgebaut hatte, wurde fleißig weiter verkauft.

Wen in dunklen Stunden Zweifel an der Zukunft des Lesens und des Mediums Buch beschleichen, dem sollte man einen Kuraufenthalt beim ilb verschreiben. Rund 150 Schriftstellerinnen (und natürlich auch Schriftsteller!) sind in diesen zehn Tagen, noch bis Sonnabend,  an einem der 34 Standorte des Festivals bei Lesungen, Diskussionen, Vorträgen oder Workshops live zu erleben, zwölf weitere sind zugeschaltet, etwa aus den USA, Japan oder Armenien. Nach den coronabedingt reduzierten Ausgaben wollten diesmal so viele wie möglich anreisen. Und auch das Publikum will sie sehen, nicht nur die Stars wie Zadie Smith (im Gespräch mit Daniel Kehlmann am Donnerstag), wie der Booker-Preisträger Damon Galgut (der am Sonntag zu Gast war) oder Jennifer Egan (die am Sonnabend kommt).

Den Status eines Stars dürfte auch der Dichter Ilya Kaminsky haben, den die BBC einen der zwölf Künstler nannte, „die die Welt veränderten“. Er kommt natürlich mit seinem in Deutschland hymnisch besprochenen Band „Republik der Taubheit“ aus dem Frühjahr. Zu Beginn des Festivals galt ein Abend auch dem Buch „Tanzen in Odessa“, 2004 bereits im Original erschienen, 2019 auf Deutsch und damals noch wenig beachtet. Der Schauspieler Frank Arnold trägt die Gedichte auf Deutsch vor: sehr eindringlich, den Schmerz des Außenseiters, als der sich der Dichter oft empfand, spürbar machend, zuweilen erzählend, sodass man ein Bild von Odessa erhält, von der Stadt, in der Kaminsky 1977 geboren wurde.

Er war 16, als seine Familie in die USA auswanderte, es war die Zeit, als er einen verlorenen Sinn wiedergewann. Denn Ilya Kaminsky hatte als Vierjähriger infolge einer Infektion sein Gehör verloren; erst in den USA bekam er ein Hörgerät. Im Gespräch mit dem Moderator sucht er den Blickkontakt, muss sich anfangs die Fragen wiederholen lassen. Als er ein Gedicht zu lesen beginnt, ist das keine Rezitation, es klingt, als würde er singen. Er füllt den Raum mit Klang, die Worte verschwimmen ineinander zu einem rhythmischen Gebilde.

Ilya Kaminsky in Berlin
Ilya Kaminsky in BerlinSabine Gudath

Als wir ihn anderntags im Haus der Berliner Festspiele zum Gespräch treffen, erklärt er seinen Vortrag zunächst damit, dass es ihm seltsam vorkomme, denselben Text wieder und wieder zu lesen, wie eine Maschine. Er versuche, die Gedichte mit seiner Stimme noch einmal zu verändern. „Außerdem bin ich der Meinung, dass ein lyrisches Gedicht eigentlich ein Lied ist und nicht eine Chemievorlesung oder ein Zeitungsartikel, also sollte es auch als solches präsentiert werden“, sagt er. „Poesie ist eine uralte Kunstform, die aus dem Gesang, aus dem Schamanismus stammt, sie ist älter als die meisten Religionen. Dichter waren einst Techniker des Heiligen. Das sollten wir nicht verlieren.“

Die Kriege waren immer da

Zum Erscheinen von „Republik der Taubheit“ auf Deutsch Mitte Mai hatten die Leser die Nachrichten vom russischen Feldzug gegen die Ukraine im Kopf. Die Gedichte, die zusammenhängen wie ein Theaterstück, die auch Prosaelemente enthalten, führen in eine fiktive ukrainische Stadt. Soldaten marschieren auf. Doch auch in Kaminskys erstem Buch „Tanzen in Odessa“ sind Krieg und Gewalt gegenwärtig.

Also fragen wir, warum seine Bücher so aktuell wirken, und seine kurze Antwort lautet: „Weil das Leben so war und ist. In dieser Region der Welt gab es keine Dekade ohne Krieg.“ Die längere Antwort führt in die Geschichte. Als er Kind war, noch in der Sowjetunion, mussten Tausende junge Männer aus der Generation seines älteren Bruders als Soldaten nach Afghanistan ziehen; sie seien in Särgen zurückgekehrt.

Dann kam der Krieg in Transnistrien, einer Region von Moldau, Menschen flohen von dort nach Odessa. Er selbst habe mitbekommen, wie sie nachts an die Haustüren klopften, um zu telefonieren, „sie hatten nichts mehr“. Und jetzt musste sein Onkel, der immer noch in Odessa wohnt, erleben, dass der Häuserblock, in dem seine Wohnung ist, von Raketen getroffen wurde. „Leider kann unsere Spezies nicht damit aufhören, Krieg zu führen. Und so enthalten nicht nur Dokumentationen Gewalt, sie sickert auch in die Poesie. Aber auf der anderen Seite ist die Poesie ein Trost. Sie hilft uns, inmitten von Krisen Zärtlichkeit zu finden – wenn nicht durch den Inhalt von Geschichten, dann durch die Art und Weise, wie diese Geschichten erzählt und gesungen werden. Es gibt Trost in der Musik und den Bildern der Sprache.“

Kaminsky muss sich nach dem Gespräch einen Weg durch den Trubel von Schülerinnen und Schülern suchen, die auf die nächste Lesung warten. Mit über fünfzig Schulen ist die Sektion Kinder- und Jugendliteratur in Kontakt und trägt so den Trost und die Kraft der Literatur zur nächsten Generation. Ilya Kaminsky muss in sein Hotel, um bald selber zu unterrichten, online natürlich. Er ist Poetik-Professor am Georgia Institute of Technology in Atlanta.

Um die Situation in der Ukraine und noch mehr geht es an einem anderen Abend im Collegium Hungaricum in Mitte, direkt hinter dem Gorki-Theater. Die Kiewer Fotografin und Schriftstellerin Yevgenia Belorusets, die Berliner Slawistik-Professorin Susanne Frank und die Journalistin Ljubou Kaspjarowitsch diskutieren mit der Kiewer Verlegerin Kateryna Mishchenko auf Deutsch über psychologische Kriegsführung, den Kampf um Begriffe, um Sprache. Den abstrakten Veranstaltungstitel „Postsoviet Cosmopolis“ streifen sie nur kurz, sie verlassen schnell die Ebene der Losungen, mit denen die öffentlichen Debatten überlagert sind. „Vielleicht sollten wir ein Wörterbuch herausgeben“, schlägt Belarusets vor. Ein Wörterbuch wäre sinnvoll, um der Gewalt, die „Putins Trolle“ der Sprache antun, etwas entgegenzusetzen. Susanne Frank unterstützt die Idee, denn es sei frappierend, wie die russische Propaganda im Zuge des Krieges immer neue Begriffe aushöhle: „Sie besetzen sie, damit diese Worte dann sinnlos erscheinen.“ Und auch Kateryna Mishchenko hat beobachtet, wie diese Strategie wirkt: „Wenn Ukrainer jetzt sagen: ,Wir sind keine Nazis‘, dann fallen sie schon darauf herein, dann übernehmen sie die Sprache des Aggressors.“

So schön kann Europa sein!

Ljubou Kaspjarowitsch, die nach Deutschland ausreiste, nachdem sie wegen eines Artikels in Minsk 15 Tage inhaftiert worden war, sagt, dass im putinfreundlichen Nachbarland der Ukraine, in Belarus, ein ganzer Berufsstand kriminalisiert würde. „Journalisten gelten als Extremisten.“ Sie benutze jetzt ganz bewusst einfache Worte, um der Manipulation entgegenzuwirken. „Krieg ist Krieg.“ Das Gespräch geht so lange, dass sich Mishchenkos kleiner Sohn, der bewundernswert still im Publikum saß, anschließend flach auf das Podium legt, als wolle er sofort schlafen. Es ist seit zwei Stunden dunkel draußen und sie haben noch einen weiten Weg. Die Autorin und Verlegerin arbeitet derzeit am Wissenschaftskolleg in Berlin.

Das Literaturfestival feiert das Lesen und die Sprache und es fordert zur Auseinandersetzung auf. Im und um das Haus der Berliner Festspiele sieht man fast zu jeder Tageszeit Menschen vielsprachig diskutieren, bei Wasser oder Wein, mit Brezel oder Brotbox. Der Festivaltrailer, der wie bei der Berlinale vor jeder Veranstaltung gezeigt wird, stimmt immer neu auf etwas Verbindendes, Mutmachendes ein.

Als am Montagabend Olivier Guez den von ihm herausgegebenen Band „Grand Tour“ vorstellt, mit Erzählungen und Kurzgeschichten von 27 Schriftstellerinnen und Schriftstellern – aus jedem EU-Mitgliedstaat –, da weht ein bisschen frohe Zukunft durch die gut besetzten Reihen der Probebühne. Oh, wie schön kann Europa sein! Olivier Guez, hierzulande auch bekannt durch sein mit dem Deutschen Filmpreis prämiertes Drehbuch zu „Der Staat gegen Fritz Bauer“, sagt, er sei zwar in Strasbourg geboren und schreibe auf Französisch, er lebe aber jetzt in Rom und habe lange in Berlin und Brüssel gewohnt: „Ich bin ein europäischer Autor.“

Das Buch, für das jeder sich von einem Ort ausgehend einen Text überlegen sollte, enthält etwa zur einen Hälfte liebevolle oder skeptische Beobachtungen aus dem Moment heraus und zur anderen die schwierigen Themen der Geschichte des vorigen Jahrhunderts. So zumindest erzählt es Guez in dem auf Englisch geführten Gespräch, das Buch liegt nur auf Französisch vor, und ob es in die Sprachen der Verfasser übersetzt werden könne, hänge an komplizierten Vertragsfragen.

In Deutschland sei die Erinnerung an die Verbrechen der Nazis zwar präsent, doch gebe es in Europa noch einiges zu tun, was die Aufarbeitung der Vergangenheit betrifft. Das sagt Maaza Mengiste, als sie an einem anderen Tag auf der Seitenbühne des Festspielhauses zu ihrem Roman „Der Schattenkönig“ befragt wird. Die in Äthiopien geborene, in den USA lebende Autorin schreibt von Mussolinis Afrika-Feldzug und erzählt, wie sie in Italien recherchiert habe. Viele Menschen dort wüssten bis heute nicht, was ihre Großväter im Krieg getan haben. Um ihre Figuren plastisch werden zu lassen, habe sie etliche Tagebücher und Fotoalben studiert. Nicht in Bibliotheken, sie sei einfach über die Märkte gezogen. „Auf jedem Flohmarkt in Italien finden Sie noch eine Nazi-Ecke. Da liegen die Orden und Erinnerungen.“

Ihr Auftritt wirkt wie eine Fortsetzung der Gespräche mit Francesca Melandri zu ihrem Roman „Alle, außer mir“, in dem eine Italienerin nach Jahrzehnten erfährt, was ihr Vater im Krieg in Äthiopien trieb. Sie war 2018 hier, als noch niemand ahnte, dass ein Virus weltweit Veranstaltungen und Reisen verbieten würde. Das Literaturfestival anno 2022 wirkt nun also fast so wie vor der Pandemie. Selten trägt jemand im Publikum eine Maske. Der Eröffnungsabend, als nur in wenigen vorderen Reihen des großen Saals im Haus der Berliner Festspiele Leute saßen und David Van Reybroucks Appell zur Rettung der Welt hörten, ließ einen schlimmen Besucherschwund fürchten. Ab Donnerstag ist Margaret Atwood zu Gast, da werden die Karten schon knapp. Wer sie verpasst, kann ihren Auftritt aber online verfolgen, so wie etliche andere Gespräche, die noch bis Sonnabend stattfinden, gestreamt werden und weiterhin verfügbar sind.