Kunst

Hamburger Bahnhof: Warum die neuen Direktoren wissen, was zu tun ist

Open House im Hamburger Bahnhof: Das Führungsduo stellt seine neue Sammlungspräsentation „Nationalgalerie“ vor. So verändern sie das Haus.  

Till Fellrath (r.) und Sam Bardaouil sind seit dem 1. Januar 2022 die neuen Direktoren des Hamburger Bahnhofs
Till Fellrath (r.) und Sam Bardaouil sind seit dem 1. Januar 2022 die neuen Direktoren des Hamburger BahnhofsMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Der Wind pfeift durch eine Mundharmonika, die aus dem Fenster eines durch Berliner Neubauviertel fahrenden Autos gehalten wird. Ein Jugendlicher singt ein türkisches Lied, dann trommelt der Regen. Die Stimmen und Geräusche aus Nevin Aladağs Video „Voice Over“ (2006) hallen durch die neue Sammlungspräsentation, die am 16. Juni im Hamburger Bahnhof eröffnet. Seit dem 1. Januar 2022 sind Till Fellrath und Sam Bardaouil die neuen Direktoren des Hauses. Ihre Berufung ins Amt – die zeitgleich mit der Klaus Biesenbachs für die Neue Nationalgalerie und des noch zu bauenden Museums der Moderne „berlin modern“ erfolgte – wurde zunächst kritisch beäugt. Das aber wohl in erster Linie wegen ihres bislang eher geringen Bekanntheitsgrades in Berlin. Nun kann erstmals vollständig betrachtet werden, an was Fellrath und Bardaouil seit ihrer Berufung gearbeitet haben.

Vom 16. bis zum 18. Juni feiert der Hamburger Bahnhof unter dem Titel „Open House. Tage der offenen Tür“ bei freiem Eintritt und mit stündlichen Ausstellungsrundgängen, Backstage-Führungen, dem Start der „Berlin Beats“-Sommermusikreihe und Filmscreenings nicht nur den Auftakt der neuen Sammlungspräsentationen, sondern auch den Erhalt des Museumsstandortes. Denn nachdem das Areal 2007 von der Immobiliengesellschaft CA Immo erworben worden war, drohten die Rieckhallen, die seit 2004 zum Museumskomplex gehören, zwischenzeitlich sogar abgerissen zu werden. Nach Protesten und langem Zerren konnte der Museumsstandort im November 2022 gesichert werden: Das Land Berlin kaufte die Rieckhallen, und der Bund das historische Gebäude.

Sonderausstellungen des Direktoren-Duos, wie aktuell Fred Sandback und Christina Quarles, sind bereits im Hamburger Bahnhof zu sehen. Dennoch wirkt das „Open House“-Wochenende wie die eigentliche Eröffnung ihrer Amtszeit. Drei neue Programmlinien starten, die zeigen, welchen Ansatz das Duo verfolgt, um die Präsentations- und Arbeitsweisen am Haus dauerhaft umzukrempeln: Die Sammlungspräsentation „Nationalgalerie: Eine Sammlung für das 21. Jahrhundert“ kuratierten die beiden gemeinsam mit Catherine Nichols. Eine neue Archivausstellung mit Pflanzen und vielen Sitzgelegenheiten zeigt unter dem Titel „Forum Hamburger Bahnhof“ Objekte und Archivalien, die die Geschichte des Baus von 1848 bis heute veranschaulichen. Der Eintritt ist ebenso frei wie zum dritten Teil der neu kuratierten Schauen: Die „Unendliche Ausstellung“, wie die Direktoren die Sammlung der Werke nun nennen, die ständig am Haus installiert sind (wie Dan Flavins Leuchtstoffröhren an der Hauptfassade), umfasst 19 Kunstwerke. Ein Rundgang setzt die Sammlung nun in einen Kontext mit Gebäude, Geschichte und Nachbarschaft.

„Nationalgalerie“ im Hamburger Bahnhof
„Nationalgalerie“ im Hamburger BahnhofMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Die Gegenwart pfeift durch die Ritzen

Einen neuen Namen haben die Direktoren dem Museum bereits im Herbst gegeben: Hamburger Bahnhof – „Nationalgalerie der Gegenwart“ heißt es seitdem statt „Museum für Gegenwart“. Der Name macht deutlich, wie das Duo an die Neugestaltung geht: Nicht das Museum ist „für“ die Gegenwart da, sondern die Gegenwart bestimmt das Museum. Wie in Aladağs Video pfeift diese Gegenwart nun durch alle Ritzen, ist vielstimmig, beherrscht von Natur und Mensch – und in dieser Gegenwart bleiben viele Stimmen ungehört. Soll heißen: Die neuen Direktoren verstehen den Ausstellungsraum nicht länger als abgeschotteten „White Cube“, sondern als offen und im Austausch mit dem Außen, ja gar abhängig davon.

Die Nachbarschaft, die Natur, die Gebäude drumherum und deren Geschichte, das alles soll in Zukunft mitgedacht werden. Direkt in den Ausstellungsräumen erfahrbar ist das nun, weil sie die Wände, die bislang vor den Fenstern angebracht waren, und weitere Trennwände in den Räumen abmontieren ließen. Bardaouil sagt, „dass die Architektur so nun wieder atmet“, und Fellrath fügt hinzu, dass man sich nun viel besser im Haus orientieren könne, „weil der Blick nach draußen wieder frei ist“. Und tatsächlich ist es ja auch ein Erfordernis der Zeit: „Mit dem zu arbeiten, was da ist, statt immer mehr Ressourcen zu verbrauchen“, wie es die Kuratorin Catherine Nichols auf den Punkt bringt.

Die Durchlässigkeit von Kulturinstitutionen wird wichtiger. Denn das Regulieren von Temperatur, Licht, Luftfeuchtigkeit verbraucht Energie. Die neuen Direktoren setzen hier an: Sie wollen die Rieckhallen künftig nicht mehr dauerhaft klimatisieren, sondern nur „die Spitzen rausnehmen“, also extreme Hitze oder Kälte, und sie planen weniger Transportwege. Das trifft sich gut, denn das Augenmerk der Sammlung liegt auf Berlin und auf hier tätigen Künstlern.

„Nationalgalerie“ im Hamburger Bahnhof
„Nationalgalerie“ im Hamburger BahnhofMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Isa Genzkens „Fenster“ von 1990 fällt ins Auge

Über die Treppe hinauf, vorbei an der überdimensionalen Kirschblüte von Petrit Halilaj und Álvaro Urbano, gelangt man in die Sammlung. Die neue Präsentation beginnt mit dem ehemaligen Osten. Nicht zufällig, denn Fellrath und Bardaouil wollen diesen stärker repräsentieren. Die Stillleben von Manfred Paul, 1942 in Schraplau bei Halle geboren, zeigen herumliegende Socken, verblühte Tulpen, eine angebissene Birne. Schwarzweißfotos, auf denen nicht viel passiert. Alles wartet.

Für Fellrath und Bardaouil beginnt die zeitgenössische Kunst mit der Wende. Sie stimmen diese Erzählung an mit einem Moment des Innehaltens. Pauls Fotografien entstanden um 1984. Die neue Ausstellungsarchitektur ermöglicht das Verharren bei den Stillleben, weil sie den Blick auf die dahinterliegenden Exponate verstellt. Zunächst fällt nur eine Arbeit von Isa Genzken ins Auge, ihr „Fenster“ von 1990, mit dem das Kuratorenteam deutlich macht, dass wir uns hier an einer Schwelle befinden, an der Vergangenheit und Zukunft ineinanderfallen: Das nackte Betonfenster wirkt wie ein Überbleibsel, ein Relikt aus der Vergangenheit, könnte aber auch als Neuanfang und Öffnung in die Zukunft verstanden werden.

Wie zahlreiche weitere Werke ist das „Fenster“ von Genzken eine Leihgabe der Kunstsammlung des Bundes. Auch aus der Sammlung des ifa – Institut für Auslandsbeziehungen sind Arbeiten zu sehen. Die Kooperation ist eine Premiere. Das Direktorenduo begründet sie damit, „mit privaten Sammlern nicht allzu gute Erfahrungen“ gemacht zu haben und dass die öffentlichen Sammlungen ja tatsächlich über herausragende Werke verfügen, die aber viel zu selten aus den Depots hervorgeholt würden. Man kann von Glück sprechen, denn so ist auch eine Werkgruppe der Hannah-Höch-Preisträgerin Ruth Wolf-Rehfeldt zu sehen, die seit mehr als 70 Jahren in Berlin lebt und bis zur Wende in der DDR beeindruckende „Typewritings“, Schreibmaschinengrafiken, anfertigte.

Die einstige Teilung der Stadt und wie sie sich seitdem entwickelt hat, war leitend für die kuratorische Aufarbeitung der Sammlung. Eine Fotografie Barbara Klemms zeigt den „Abzug der letzten russischen Soldaten, Berlin Treptow“ (1994), und Jannis Kounellis formuliert mit der Skulptur „Ohne Titel“ (1993) die Frage, wie Kultur dazu beitragen kann, die nach der Teilung erfolgte Lähmung der Gesellschaft zu überwinden. Aber auch aktuelle Themen wie Wohnen, Gentrifizierung, Obdachlosigkeit und Überleben in der Stadt treten zutage: wie durch die asketische Wohnraumzelle des israelischen Künstlers Absalon („Cellule No. 2, 1992) oder eine in Gummi gegossene Matratze von Rachel Whiteread („Ohne Titel“, 1991), die unvermittelt auf dem Boden liegt.

„Nationalgalerie“ im Hamburger Bahnhof
„Nationalgalerie“ im Hamburger BahnhofMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Fellrath und Bardaouil möchten die Sammlung diverser machen

Ein Bild der Stadt Berlin tut sich auf, in Veränderung und aus unterschiedlichen Perspektiven. Trotz der Schwere der Themen gelingt es der Kuration, leise und poetische Momente zu erzeugen: So am Ende des Rundgangs im ersten Stock, wenn die Fotografien Wolfgang Tillmanns – der Bogen des sonnenbeschienenen Rückens irgendwo in der Natur, vielleicht an einem See – in einen Dialog treten mit dem wallenden Stoff des Vorhangs der Künstlerin Flaka Haliti („Just Hanging Around #2“, 2017), der wie ein Sonnenuntergang in Rosa und Blau von der Decke hängt.

Fellrath und Bardaouil möchten die Sammlung in Zukunft diverser machen, nicht nur Positionen aus dem Osten, sondern auch die von Frauen fehlten bisher. 30 Jahre lang ist niemandem aufgefallen – oder niemand hat etwas daran geändert –, dass die Sammlung der ständig am Haus installierten Werke über keinen weiblichen Namen verfügt. Fellrath und Bardaouil aber haben es gemerkt und gehandelt. Ihr erster Neuankauf gilt Judith Hopf. Die Künstlerin lehrt an der Frankfurter Städelschule, war jedoch in den 1990er-Jahren Teil der Berliner Kunstszene. Auch die Ankäufe der drei kommenden Jahre für die „Unendliche Ausstellung“ sollen Arbeiten weiblicher Künstler sein.

Nach der Sichtung der neuen Sammlungspräsentationen stellt sich das Gefühl ein: Fellrath und Bardaouil sind die Richtigen für das Haus. Sie sehen, was da ist, aber bislang vielleicht unentdeckt blieb, reißen dafür schon einmal eine Wand ein (es gibt einen neuen Zugang zu einem kleinen Gartenbereich), öffnen die Fenster, lassen das Außen ins Innen und versuchen, die Ohren zu spitzen für Stimmen, die bislang nicht gehört wurden.

Zu hoffen bleibt, dass das Bestreben, das Museum zu öffnen und das Außen wie die Nachbarschaften stärker einzubeziehen, sich auch über das Entfernen der Wände vor den Fenstern hinaus in die Tat umsetzen lässt. Erste Schritte für eine langfristige Entwicklung – über die Tage der offenen Tür hinaus – sind damit getan, die „Unendliche Ausstellung“ und das „Forum Hamburger Bahnhof“ gratis zugänglich zu machen und hier Sitzgelegenheiten, die auch konsumfrei genutzt werden können, zur Verfügung zu stellen. Sodass künftig noch mehr unterschiedliche Stimmen und Geräusche in den Hallen des Hamburger Bahnhofs aufeinandertreffen.