Die Nahsicht ist beinahe extrem. Abweisend der Blick, die Mimik, die Gestik der jungen Frau, die mit der Pistolenmündung direkt auf den Betrachter zielt: Der Titel des Bildes ist: „Für den, der von mir was will, was ihm nicht zusteht“. Kein Zweifel, Cornelia Schleime malte hier ein unmissverständliches Statement zur MeToo-Debatte.
Aber sie kann auch sanft und poetisch – eine Fabuliererin mit Lust am Absurden. Im Bild „Die Taube“ legt Picassos Friedensvogel zärtlich Haarsträhnen des Mädchens über die gespreizten Flügel. Irgendwie wird jetzt klar, warum die Malerin ihre Schau „ich lass mich nicht spannen – lass mich nicht flechten“ nennt. Es ist eine Strophe aus einem ihrer Gedichte. Die kann man in den Räumen der Städtischen Galerie lesen und auch aus Lautsprechern hören.
Nein, eine Rückkehr ist es nicht, wenn Cornelia Schleime jetzt, so kurz vor ihrem Siebzigsten (am 4. Juli), gleich zwei Ausstellungen in Dresden hat. Die Berlinerin studierte an der berühmten Kunsthochschule an der Brühlschen Terrasse, in der Stadt, die zu DDR-Zeiten als „Elbflorenz“ gerühmt wurde. Obwohl kaum jemand mal ins echte Florenz durfte. Aber hier fand sie ihre malerischen Wurzeln: Die Wochenenden während des Studiums in den 70er-Jahren verbrachte sie in den Dresdner Bildermuseen bei den Alten und den Neuen Meistern. Sie sagt: „Das war meine erste große Liebe!“

Freilich tun ihr diese musealen Auftritte – über 40 Jahre später – gut. In Dresden hat schließlich alles begonnen: Die radikale Mal-Lust, die Wut gegen die Enge und den vormundschaftlichen Staatsapparat, die Renitenz, die Trauer über so viele Künstlerfreunde, die das Land gen Westen verließen: AR Penck, Ralf Kerbach, Helge Leiberg. Und dann, zurück vom Studium nach Ost-Berlin, kam nach 1981 das Ausstellungsverbot. 1984 ging auch sie in den Westen mit ihrem kleinen Sohn Moritz, der ebenfalls Maler geworden ist. Eine Ausgebürgerte.
Damals hat es sie fast zerrissen: der Abschied von den Freunden in der Künstlerszene von Dresden und vom Prenzlauer Berg (wohin sie nach der Wiedervereinigung zurückgezogen ist). Der Neuanfang im Westen, wo alles so fremd war, ohne Geld , ohne Kontakte, war herb. Dann bekam sie das DAAD-Stipendium für New York. Und die Mauer fiel. Plötzlich war alles wieder da, die Freunde, die Vergangenheit. Und auch die bittere Erfahrung, in Ost-Berlin die ganze Zeit über bespitzelt worden zu sein. Und dies vom einst besten Freund in der Künstler- und Literatur-Community Prenzlauer Berg, der sie auch noch zu ihren renitenten, verbotenen, auf Super-8-Filmen gedrehten Körper-Aktionen mit Plastiktüte überm Kopf und Schnürungen der nackten Haut ermuntert hatte: Sascha Anderson, den Wolf Biermann als „Sascha Arschloch“ enttarnte.
Dem „Verräter“, so das Bild von 1991, gilt dieses seltsame „Porträt“: ein Typ im schwarzen Anzug, dem aus Mund und Ohr ein schwarzer Stock wächst. Es gehört der Sammlung der Galerie Neue Meister.

Flügelrauschen, wohl auch Kreischen und Krächzen vermeint man zu vernehmen aus Schleimes 20 packenden Bildern in der Städtischen Galerie Dresden. Seltsame Vögel fliegen förmlich hinein in die Leinwand, hin zu merkwürdigen Seilhaar-Mädchen und Frauengestalten mit Rapunzel-Zöpfen, die zu Geweihen, zu Laokoonschlangen werden. Zöpfe und Schleifen im Mädchenhaar könnten Schmuck sein, aber auch Züchtigungsmittel. Manche haben Blüten und Blätter zwischen den Lippen.
Mit Schafskopf zeigt die Malerin sich selber im Bikini, als ironisches „Selbstporträt“. Radikale Fantasie tobt sich aus, in surrealen, melancholischen Menschenbildern, die in kein Kunstschema passen, weil sie Zwischenwesen sind: Mensch-Tier-Pflanze. Junge Frauen werden zu Argonautinnen auf der Suche nach dem Goldenen Vlies. Das ist Mythologie, Märchen, feministisch und auch surreal um-gemalt, auf der Suche „nach noch was Anderem“. Doch dieses „Andere“ sind die Absurditäten unserer Zeit. Schleime sagt dazu, sie male Camouflagen.

Sie scheint schier endlos, ihre Lust an der Selbstinszenierung. Sie taucht ein in ihre Bildwelten aus einem ungewöhnlichen, von ihr zusammenexperimentierten Amalgam aus Tusche und Aquarellfarbe, aus Acrylfarben, Schellack, Asphaltlack auf Leinwand. Sie arbeite, sagt sie, indem sie sich „aus allem rauszieht“, nur im Dialog mit der Fläche, dem Vokabular der Anschauung, der Erinnerungen, der Geschichten, der Szenen, die zu Bildern werden. Werden müssen. Magische Motive, die Protagonistinnen oft merkwürdig entrückt erscheinen lässt, ungerührt von dem, was passiert. Der neutrale Hintergrund macht eine räumliche Verortung nicht möglich. „Aber doch ist es immer der Ort, der mich interessiert, und nicht das Ausgedachte“, versichert die Malerin, wohl wissend, wie geheimnisvoll und doppeldeutig ihre Figuren wirken.
2o16 bekam sie den begehrten Hannah-Höch-Preis der Stadt Berlin, damals verriet sie mir ihr Idol: die aus Dresden stammende, in Worpswede und Bremen berühmt gewordene, aber jung verstorbene Malerin Paula Modersohn-Becker – eine, die wie sie dauernd in ihre Bildwelten geflüchtet war, um das Leben zu ertragen.

