Ukraine-Krieg

Gwendolyn Sasse: „Es sprechen zu viele über die Ukraine, die keine Ahnung haben“

Die Slawistin und Humboldt-Professorin über die koloniale Brille im deutschen Ukraine-Diskurs und die Illusionen, denen sich der Westen hingegeben hat.

Mariupol am 29. November 2022
Mariupol am 29. November 2022AFP/Stringer

Die Slawistin und Politikwissenschaftlerin Gwendolyn Sasse hat im Oktober ihr Buch „Der Krieg gegen die Ukraine. Hintergründe, Ereignisse, Folgen“ (C.H. Beck)  veröffentlicht. Am Donnerstag, 1. Dezember, um 17.30 Uhr findet in der Urania Berlin die Buchpremiere statt. Hier spricht sie darüber, wogegen Putin eigentlich Krieg führt und wie sich die Intensität des ukrainischen Widerstands erklärt.

Prof. Sasse, warum ist es Ihnen so wichtig, den Krieg gegen die Ukraine nicht als Putins Krieg zu bezeichnen?

Putin ist eine Schlüsselfigur, er hat den entscheidenden Befehl zum Krieg gegeben. Aber auch eine Figur wie Putin ist durch ein System entstanden, selbst wenn er dieses mitgeprägt hat. Mir war es wichtig zu erklären, dass hinter diesem Krieg ein Konflikt steht zwischen einem autoritären System mit neo-imperialen Machtansprüchen, wie Russland es geworden ist, und einem sich demokratisierenden System, der Ukraine.

Sie schreiben von der Intensität des ukrainischen Widerstands, die ja nicht nur Russland überrascht hat, sondern auch die westliche Welt. Wie erklärt sich diese?

Das Überraschendste für mich ist, dass man diese Dynamik in Moskau so unterschätzt hat. Unsere Überraschung hat damit zu tun, dass viele im Westen sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik und der Öffentlichkeit wenig auf die Ukraine geschaut haben. Der Widerstand der Ukrainer erklärt sich für mich damit, dass aus der Gesellschaft heraus mehrmals massiv an die ukrainische Regierung kommuniziert wurde, dass man ein anderes Land, ein anderes politisches Modell werden will. Massenproteste sind seltene Phänomene, aber in der Ukraine hat es nicht nur die Orangene Revolution gegeben, sondern auch den Euro-Maidan, um nur die größten zu nennen. Und es ging immer gegen ein als zu korrupt empfundenes, innen- und außenpolitisch unentschiedenes System. Das ukrainische Volk forderte eine andere Regierung. Es war in seinen Gedanken schon weiter, als viele das im Westen gesehen haben. Das heißt nicht, dass es immer großes Vertrauen in alle staatlichen Institutionen gab. Aber die Idee von dem Staat in seinen Grenzen von 1991 war ausgeprägt und dafür ist man bereit zu kämpfen. Das spricht gegen die Wahrnehmung der Ukraine als gespaltenes Land.

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Anette Riedl
Zur Person
Gwendolyn Sasse ist die Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien Berlin (ZOiS). Seit April 2021 ist sie Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Zudem ist sie Non-Resident Senior Fellow beim Thinktank Carnegie Europe.

Es gab und gibt auch im deutschen Diskurs die These, dass die Krim doch irgendwie schon immer zu Russland gehört hat. Sie bestreiten das.

Genau. Man sagte 2014 zwar im Westen, die Annexion stelle einen Bruch des Völkerrechts dar, aber häufig klang gleichzeitig an, dass die Krim eigentlich doch schon immer russisch gewesen sei. Das spiegelt einerseits die russische Perspektive, ist aber auch ein westlicher Blick durch die koloniale Brille. Die Geschichte der Krim beginnt jedoch nicht 1783 mit der Integration ins russische Zarenreich. Es gab davor eine lange Zeit der krimtatarischen Herrschaft, unter anderem als Teil des Osmanischen Reiches, die Krim war auch einst griechische Kolonie, und es gab dort stets zahlreiche ethnische Gruppen. Man kann den Anspruch auf ein Territorium auf verschiedene Weise herleiten. Die Krimtataren tun es aus der Deportation unter Stalin, definieren die Krim als ihr Heimatland und sich selbst als von der Ukraine inzwischen anerkanntes indigenes Volk. Im 17. Jahrhundert hätten sie weniger mit dem Bezug auf das Territorium Krim argumentiert.

Sie haben Mitte November einen offenen Brief unterschrieben, in dem Sie sich für die Aufstockung der deutschen Militärhilfe und für Winterhilfe einsetzen. Denn gelinge es Russland, die Ukraine zum Zusammenbruch zu treiben, würde die europäische Sicherheitsordnung zerbrechen. Was genau meinen Sie damit?

Die europäische Sicherheitsordnung, so wie wir sie kannten, gibt es schon jetzt nicht mehr. Sie muss neu definiert werden. Aber die gegenwärtige Situation ist ein Test für die EU. Wenn wir die Kosten dieses Krieges immer stärker in der EU spüren und die Unterstützung für die Ukraine hinterfragen, kommen als Teil der Sicherheitsordnung auch unsere Demokratien und damit die gesamte EU unter Druck. Mit war es wichtig, mit diesem Brief zu sagen, dass der Wiederaufbau jetzt beginnt, nicht erst, wenn der Krieg irgendwann zu Ende ist. Kritische Infrastruktur muss aufgebaut werden, auch immer wieder neu, denn sonst werden die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer diesen Winter nicht überstehen, oder es müssen noch mehr Menschen fliehen. Dann hätte Russland ein Kriegsziel erreicht: die Ukraine noch mehr zu schwächen. Humanitäre Hilfe kann man allerdings nicht von militärischer Hilfe trennen.

War das der erste offene Brief, den Sie unterschrieben haben?

Nein. Auch wenn ich es nicht als meine Aufgabe als Wissenschaftlerin sehe, ständig Briefe zu unterschreiben. Der erste Brief, den ich unterschrieben habe, war die Reaktion auf den in der Emma veröffentlichten Brief, der sich gegen Waffenlieferungen und für Frieden und Verhandlungen ausgesprochen hat. Auch weil es mich sehr ärgert, dass viele einen großen Raum in dieser Diskussion bekommen, denen jegliche Ukraine- oder Russland-Expertise fehlt. Da war es mir ein Bedürfnis zu sagen: Moment mal, es gibt andere Stimmen und Argumente.

Ihr Kollege Timothy Snyder hilft Geld für ein ukrainisches Drohnenabwehrsystem zu sammeln. Würden Sie so etwas auch machen oder gibt es eine rote Linie?

Ich beschäftige mich schon sehr lange mit osteuropäischen Ländern und bin bereit zu kommentieren und auch politisch Position zu beziehen, etwa auch hinsichtlich militärischer Unterstützung für die Ukraine. Ich bin im Hintergrund sehr aktiv, zum Beispiel um Mittel für geflüchtete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bereitzustellen, und ich engagiere mich auch persönlich. Aber ich sehe meine Aufgabe nicht darin, Geld für bestimmte Waffensysteme zu sammeln.

Vor kurzem ist das Buch „Endspiel Europa“ von Ulrike Guérot und Hauke Ritz erschienen, in dem der Krieg als amerikanischer Stellvertreterkrieg beschrieben wird. Es gehe letztlich darum, dass die USA ihre Vormachtrolle stärkt. Was sagen Sie dazu?

Dieses Buch ist nicht wissenschaftlich fundiert, es ist ein thesenstarkes Buch, aber viele der Thesen sind leicht zu widerlegen. Es geht um eine Meinung, die man von vorneherein hat, und die man vertritt. Es wird auch nicht faktengetreu argumentiert.

Sie haben Ihr Buch im Juli fertiggestellt. Damals haben Sie geschrieben: Ein Ende des Kriegs ist nicht abzusehen. Hat sich an dieser Einschätzung etwas verändert?

Natürlich hat es Veränderungen gegeben, das Momentum an der Front ist seit einiger Zeit auf der ukrainischen Seite, aber das Ende dieses Kriegs ist immer noch nicht abzusehen. Irgendwann enden Kriege mit Verhandlungen, aber ich sehe momentan auf russischer Seite keinen wirklichen Willen zu verhandeln. Gleich in den ersten Wochen des Kriegs hat Selenskyj erstaunlich viel auf den Verhandlungstisch gelegt: Er stimmte zu, zunächst nicht über die Krim zu entscheiden, den nicht von Russland kontrollierten Teil des Donbass weiter zu verhandeln und auf die Nato-Mitgliedschaft zu verzichten, also neutral zu bleiben. Das ist von Russland zur Seite gewischt worden. Es ging also Russland gar nicht wirklich um diese Dinge. Aber seitdem ist so viel passiert, dass der gesellschaftliche Wille in der Ukraine keine Verhandlungen erlaubt.

Sie sagen, Kriege enden immer mit Verhandlungen, aber diesen könnte ja auch ein Sieg der einen oder anderen Seite vorausgehen, der eine gute Verhandlungsposition bedingen könnte, oder?

Siegen und Verlieren sind Begriffe, die im Zusammenhang mit einem Krieg, der schon so viele Leben gekostet hat und in dem ganze Gebiete verwüstet worden sind, nicht passen. Aber die Ukraine muss den Zeitpunkt für Verhandlungen selbst bestimmen können, sie muss in der Lage sein, über etwas zu verhandeln. Dieser Zeitpunkt ist derzeit nicht gegeben. Aber ohne umfängliche militärische Unterstützung kann die Ukraine diesen Krieg nicht unbegrenzt weiterführen. Das heißt, dass die Ukraine doch nicht wirklich allein entscheiden kann, wann der Zeitpunkt zum Verhandeln gekommen ist.

Die Ukraine möchte den Staat in den Grenzen von 1991. Aber hat es nicht durch die langen Jahre der Annexion der Krim und der von Russland kontrollierten Volksrepubliken im Donbass Entwicklungen gegeben, etwa durch die Passportisierung und die Kontrolle der Medien, die eine Wiedereingliederung der Gebiete in die Ukraine schwierig machen würden?

Das ist zumindest eine große Herausforderung. Die Frage vor allem im Donbass ist, wer in diesen Gebieten überhaupt noch lebt. Aber ja: Man hat im Donbass und vor allem auf der Krim, wo Russland massiv Menschen angesiedelt hat, durch eine völlige Reorientierung in Richtung Russland auch Abhängigkeiten geschaffen. Das ist zwar nicht unumkehrbar, aber es ist schwierig. Und eigentlich gibt es diese Herausforderungen auch in Bezug auf Cherson und andere Gebiete, die eine Zeit lang unter russischer Kontrolle waren und jetzt zurückerobert wurden. Dort gibt es jetzt Diskussionen über die Ahndung von Kollaboration.

In Westeuropa, in Deutschland hat lange die Auffassung bestanden, dass Wirtschaftsbeziehungen friedensstiftend sind. Diese Vorstellung ist beschädigt worden, oder?

Zumindest sieht man jetzt wieder realistischer, dass das nicht ausreicht und es keinen Automatismus gibt. Im Gegenteil: Sich wie Deutschland derartig abhängig zu machen von einem autoritären System, was Energielieferungen angeht, und darauf zu setzen, dass man aufgrund dieser Verflechtung das Verhältnis managen kann, war ein großes Risiko.

Nun ist der militärische Aspekt der Friedenssicherung wieder da, der ja eine Zeit lang fast ganz verschwunden schien.

Gerade in Deutschland haben sich viele der Illusion hingegeben, man könne sich als nicht militärisch definieren. In Ost- und Mitteleuropa hat man die militärische Komponente immer mitgedacht.

Wirtschaftliche Beziehungen zu autokratischen Staaten sind wahrscheinlich problematisch, aber kaum zu vermeiden, man denke nur an China.

Mit Blick auf China sind viele Teile Europas und des Westens in solchen Abhängigkeiten, die es zu korrigieren gilt. Erstaunlich ist, dass man in Deutschland diese Wirtschaftsbeziehungen noch immer mit der gleichen Rhetorik verbrämt, wie man sie lange Zeit auf Russland angewandt hat. Siehe Hamburger Hafen, an dem China vor ein paar Wochen wesentliche Anteile kaufen konnte. Man sollte sich nicht erneut der Illusion hingeben, dass man wirtschaftliche Beziehungen rein als solche betrachten kann. Das war der große Fehler bei Nord Stream. Noch im Januar hieß es, das sei ein privatwirtschaftliches Projekt. Jedes Projekt dieser Dimension hat jedoch politische und sicherheitspolitische Konsequenzen. Das muss man klar sehen und rechtzeitig Risiken diversifizieren und eigene Sicherheitsinteressen benennen.