Kolumne

Verhaltensfrage: Darf ich fremde Kinder bewundern?

Ein Blick in das Antlitz eines Neugeborenen gibt Kraft, bringt die eigenen Lebensgeister zum Tanzen und wühlt emotional auf. Aber steht einem das auch zu?

Wir sind uns nicht sicher, ob dieser Mensch seine Zustimmung gegeben hat, das wir ihn uns hier anschauen dürfen. Andererseits ist er süß.
Wir sind uns nicht sicher, ob dieser Mensch seine Zustimmung gegeben hat, das wir ihn uns hier anschauen dürfen. Andererseits ist er süß.Imago

Bei der letzten Verhaltensfrage wurde etwas vorausgesetzt, was eigentlich vorher zu klären gewesen wäre. Da ging es um eine kleine Spielplatzbekanntschaft, die mit einer großen Enttäuschung endete. Ein Kind, das gerade laufen gelernt hatte und das sich auf den Weg in die weite Welt machte, sah sich von den Blicken eines Fremden, der auf der Bank sein Pausenbrot aß, dazu ermuntert. Die Freude über die neue Fortbewegungsmöglichkeit und den Freiheitsdrang verband die beiden miteinander. Das wurde umso spürbarer, als das Kind dann hinfiel, den Fremden mit für sein Unglück in die Verantwortung nahm und dieser sich fragte, ob er es denn trösten dürfe, auch wenn gleich die Eltern zur Stelle sein würden, die eigentlich dafür zuständig sind.

Vorher wäre aber doch zu fragen, ob es überhaupt erlaubt ist, fremde Kinder mehr als nur still zu bewundern. Würde man das so ohne Weiteres mit einem Erwachsenen tun, der einem über den Weg läuft? Sie haben aber gute Laune und, ei, wie lustig Ihre Augen blinken! Der Reflex, seine Bewunderung herausplatzen zu lassen, ist unterschiedlich ausgeprägt, scheint aber umso intensiver, je kleiner das Kind ist.

Mir persönlich ist es unmöglich, den Kopf wegzudrehen, wenn ich ein frisch geschlüpftes Menschlein in einem Tragetuch sehe, wie es mit all seiner aus dem Jenseits mitgebrachten Weisheit ins Tageslicht blinzelt und nicht versteht, wie ihm geschieht. Es funkt und brizzelt zwischen diesem Wesen und mir. „Wie süß!“, sage ich und dann überhäufe ich es – schweigend natürlich – mit guten Wünschen, Empfehlungen und Warnungen, kapituliere vor dem Wunder und der Verletzlichkeit des Lebens.

Ich blicke in das kleine, fremde, tief vertraute Gesicht und denke an die Wucht des Glücks, als meine Kinder auf die Welt kamen und mir, so zart und freundlich sie auch waren, mein Leben in einem Augenblick umkrempelten. Ich denke daran, wie es mir wohl selbst ergangen ist, als ich so klein war und ob ich mich gefreut hätte, wenn ich gewusst hätte, was mich erwartet. Kleiner Mensch! Was für ein Mut doch nötig ist, um auf diese Welt zu kommen. Und wie großartig es sein wird, die Dinge rauszufinden, die Segnungen des Lebens zu genießen, die Liebe zu entdecken. Wenn man mich ließe, ich die Zeit hätte und mir die emotionale Öffnung erlauben würde, könnte ich beim Anblick eines Säuglings problemlos in Tränen ausbrechen. Was für ein Energieschub. Und was für übergriffige Projektionen!

Und wenn ich dann – in einer Mischung aus Höflichkeit und Vermeidungsstrategie – den verhangenen Blick doch von dem kleinen mirakulösen und wahnsinnig niedlichen Gesichtchen abwende und gerechtigkeitshalber auch zu den Eltern lenke, fühle ich mich erwischt. Auf Verständnis und Großzügigkeit hoffend, versuche schnell, mir nachträglich eine Genehmigung für die Verwendung des Kindes zu holen und ernte im besten Fall ein müdes Lächeln. Ein sehr müdes Lächeln in einem angestrengten Gesicht, das mir dann auch schnell auf den Teppich zurückhilft. Denn das weltumspannende Glück, das so ein kleines Wesen ausstrahlt, ist zumeist mit sehr viel Mühe und sehr wenig Schlaf verbunden.

Dieser völlig fremde und unfertige Mensch bringt meine tief verborgenen und gebrechlichen Lebensgeister zum Tanzen, meinen Griesgram zum Schmelzen und schleudert mich emotional auf das Herrlichste herum – ohne dass ich auch nur einen Finger dafür krumm machen müsste. Das Gefühl der tiefen Dankbarkeit dafür zeigt mir, dass es vielleicht doch nicht ganz in Ordnung ist, sich einfach so zu bedienen. Andererseits: Jeder war einmal süß und hat die Welt beglückt. Bestimmt auch ich. Gern geschehen!