Kolumne

Verhaltensfrage: Darf ich Ameisen wegsaugen?

Alles, was krabbelt, lebt. Alles, was lebt, hat eine Seele und verdient Empathie. Es sei denn, es frisst den ohnehin knappen Wohnraum weg.

Ameise in Abwehrhaltung.
Ameise in Abwehrhaltung.imago

Eine junge Erwachsene fand sich in einem für sie schrecklichen und unauflöslichen Dilemma wieder. Mitten durch ihr Zimmer hat ein Ameisenvolk eine Straße gebaut. Die veganen Köstlichkeiten, die dort manchmal rumstehen, bis sie nicht mehr vegan sind, mögen ihren Teil zu dieser Infrastrukturmaßnahme beigetragen haben. Diese kleinen Tiere sind, nach Ansicht ihrer Eltern, schädlich und müssen verschwinden, und eigentlich wäre es auch jener jungen Frau lieber, wenn sie ihr schön gestaltetes, nur eben nicht immer ordentliches Zimmer für sich allein hätte.

Normalerweise fängt sie alle Insekten mithilfe eines bereitstehenden Bechers, den sie über das Tier stülpt, und einer Pappe, mit der sie den Becher sodann verschließt. Anschließend trägt sie es vorsichtigen und langsamen Schrittes, um es nicht unnötig stark zu erschüttern und zu verwirren, hinaus in den Garten und lässt es dort frei. Jeweils mit einem Gruß, einem Wunsch und einem Gedanken an die Alleinheit zwischen ihrer Seele und der Schöpfung. Wenn man diesen Gedanken einmal internalisiert hat, hat man sich jeder Möglichkeit des achtlosen Tötens beraubt, dann muss man eigentlich wie ein dschainistischer Mönch mit einem Besen vor jedem Schritt kehren, um keine Ameisen zu zertreten.

Weit davon entfernt ist sie nicht mehr. Nicht einmal Flöhe, Läuse oder Zecken darf man mit dem Fingernagel in ihrer Gegenwart totknipsen, obwohl die doch nun wirklich nur auf der Welt sind, um uns zu schaden.

Bedenke, so die junge Frau, dass der Schaden, den du dem Tier zufügst, indem du es tötest, von einer ganz anderen Kategorie ist. Auch eine Mücke ist ein Individuum, das nun einmal zur Fortpflanzung tierische Proteine benötigt. Wer sagt dir, dass diese Proteine dir mehr gehören als der Mücke, nur weil diese in deinem Blut enthalten sind, während das summende Wesen ihrer bedarf, um ihre Art zu reproduzieren, wie es ihr die Schöpfung auferlegt hat?

Und selbst wenn man von einem wild gewordenen Flusspferd zwischen die Kiefer genommen würde, dürfte man es ihrer Ansicht nach vermutlich nicht einfach in Notwehr und im Kampf um Leben und Tod abmurksen, weil man selbst eben auf einer höheren Bewusstseinsstufe steht und mithin mehr Verantwortung zu tragen hat und als Mensch weit weniger vom Aussterben bedroht ist, im Gegenteil. Es spricht in dieser Ethik kein vernünftiger Grund dafür, auf der Welt zu verbleiben, Lebensraum zu beanspruchen und Kohlendioxid zu produzieren. Aber zurück zu den vermeintlich kleineren Problemen.

Imperialistische Viecher!

Die Ameisen einzeln hinauszutragen, funktioniert nicht, es sind ihrer zu viele. Der matte speziesistische Einwurf, dass man bei Ameisen nicht eigentlich von Individuen sprechen müsse, weil ihr persönlicher Lebenszweck ja nur darin bestehe, dem Interesse des Staates zu dienen, half ihr nicht aus dem Widerspruch.

Erst der mit wachsender Verve hervorgebrachte Hinweis darauf, dass diese imperialistischen Viecher (das sind keine Viecher! Viecher ist ein Schimpfwort!) sich Lebensraum in das Material zwischen den Trockenbauwänden und wer weiß, vielleicht noch tiefer in die Bausubstanz fressen, ließ sie zu drastischeren Maßnahmen und zum Staubsauger zu greifen. Und dann, bei dem empathischen Gedanken an das, was die Tiere nun durchmachen, indem sie von einem Luftwirbel ins dunkle Nichts gerissen werden, kamen die Tränen.

Sie trockneten erst, nachdem alle Ameisen weggesaugt waren, als sie den Staubsauger vorsichtigen Schrittes in den Garten getragen, den Beutel entnommen hatte und sich an dessen Öffnung nach einer Weile tatsächlich eine Ameise blicken ließ. Nach einem übellaunigen Blick in die Runde ließ sie sich ins Gras fallen, suchte das Weite, gefolgt von vielen, vielen zwar mürrischen, aber doch diensteifrigen und kriegsbereiten Kameraden. Ja, man darf Ameisen wegsaugen.