Kolumne

Verhaltensfrage: Darf ich fremde Kinder trösten?

Es gibt nichts Besseres als Kindern beim Spielen zuzusehen. Aber was macht man, wenn die Eltern nicht da sind – und etwas geht schief?

Es tröste dich, wer dich in die Welt gesetzt hat.
Es tröste dich, wer dich in die Welt gesetzt hat.imago/YAY Images

Nicht nur ein Holzschiff, eine Rutsche, Schaukel, Wackelrobbe und jede Menge Buddelsand haben sie auf diesem Spielplatz, sondern auch ein paar gute schattige Bänke. Man kann sich in Ruhe sein Pausenbrot reinschieben und die eine oder andere Mail beantworten. Und Kinder beobachten. Kindern, die nicht die eigenen sind, beim Spielen zuzusehen, ist vielleicht schon verdächtig, aber es gibt nichts Besseres. Für einen Theatermenschen wie den Regisseur Jürgen Gosch war es eine Inspirationsquelle und der einzige Maßstab der Wahrhaftigkeit. Wie sie miteinander umgehen, Konflikte austragen, wie sie Rollen annehmen und wechseln, Projekte entwickeln, Niederlagen einstecken. Die Eltern stören da nur. Sie greifen viel zu früh ein, geben geklaute Schippen zurück, sagen Nein, Nein, wenn ihr Liebling mal ein bisschen Sand kosten möchte und befrachten ihn mit ihren Ängsten und Sorgen, nur weil er auf dem Geländer des Krähennests herumtanzt.

Nicht falsch verstehen, spätestens wenn ein Kind weint, ist das Spiel ausgesetzt, dann sollte ein Vater oder eine Mutter Trost spenden. Oft ist es übrigens gar nicht der körperliche Schmerz oder die Kränkung, die den Tränenstrom auslösen. Die erste und größte Enttäuschung besteht zumeist darin, dass das Spiel verdorben wurde und man aus viel interessanteren Welten wieder hinunter muss in die Wirklichkeit, wo der Zucker nach Sand schmeckt, der unterworfene Pirat doch zurückschlägt, die befreite Prinzessin wegrennt, und man in das Meerwasser unter dem schaukelnden Holzschiff nicht eintauchen kann.

Ein Mädchen hat offenbar vor nicht allzu langer Zeit Laufen gelernt und wird sich nun des Vorteils dieser Fortbewegungsart bewusst, auch darüber, wie groß die Welt auf einmal ist. Die reine Freude spricht aus diesem kleinen, von sich selbst betörten Körper: Eroberungsgeist, Mutwille, Freiheitsdrang tragen das Kind fort von den Eltern. Und auch hierin liegt ein Moment der Weltgewinnung und Ichfindung. Man trennt sich, gerät aus dem Blick der Eltern, steht auf eigenen Füßen.

Das Mädchen lächelt mich im Vorbeirennen an, steckt mich an, hört den Ruf der Mutter, zeigt mir mit dem Blick, dass es ihn hört, rennt weiter, ein bisschen auch, weil es nicht anders kann. Flott ist und immer flotter wird der Schritt auch deshalb, weil sich das Mädchen den Oberkörper mutig nach vorn kippen lässt und mit den Beinchen hinterhereilt, um sich aufzufangen. Das funktioniert so weit so gut, das Anhalten ist allerdings heikel. Und das Mädchen hat mich noch immer im Blick, als es merkt, dass es für diesmal nicht gut ausgehen wird. Noch bevor es mit ihren nackten Knien auf den Gehwegplatten landet und sie sich mit aller Wahrscheinlichkeit aufschmirgeln wird, breitet sich Empörung in seinem Gesicht aus.

Das Mädchen brüllt los, bevor es aufklatscht. Es sieht mich im Sturz an und weint seine Wut und seinen Schmerz heraus. Es schreit mich an, so als hätte ich ihm ein Bein gestellt. Und fast so war es ja auch. Schließlich habe ich ihm nichts gesagt davon, dass man auch hinfliegen kann, wenn man so herrlich schnell rennt. Schließlich hatte ich ihm noch zugelächelt und Mut gemacht für sein Abenteuer. Und habe ich eben wirklich gefragt, ob es wehtut? Was denn sonst? Nur zu, schimpf mich aus, kleines Mädchen. Aber nur so lange, wie deine Eltern nicht zur Stelle sind, die du mit noch größerem Recht für dein Unglück zur Verantwortung ziehen könntest. Sie waren es, die dich in die Welt gesetzt haben. Bei ihnen suche Trost oder lerne, dich selbst zu trösten. Und solange kann ich ja mal versuchen zu pusten. Darf ich?