Blendend gelaunt empfängt uns Maria Schrader zum Interview im Hotel de Rome am Bebelplatz. Kurz noch eine Zigarette in der Raucher-Lounge, danach kann es losgehen mit dem nächsten Gespräch an diesem dicht getakteten Pressetag zum Start des Films „She Said“. Die Freude der 57-Jährigen ist groß darüber, dass sie über ihre Arbeit nicht mehr – wie zuletzt bei „Ich bin dein Mensch“ – nur virtuell, sondern von Angesicht zu Angesicht sprechen kann. Und obwohl sie das schon seit der Weltpremiere von „She Said“ beim New York Film Festival im Oktober im Dauertakt tut, ist ihr keine Ermüdung anzumerken.
Frau Schrader, „She Said“ ist Ihre erste Regiearbeit in Hollywood. Was war dort der Türöffner für Sie?
Als 2020 bei Netflix die Serie „Unorthodox“ herauskam, die ich inszeniert habe, hat das plötzlich ganz schön was bewegt. Da gab es mit einem Mal ein großes Interesse, mich kennenzulernen. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele sogenannte general meetings ich damals über Zoom mit Produktionsfirmen gerade aus England und Amerika hatte. Ich dachte mir, dass das wohl üblich ist in einer so funktionierenden und hungrigen Filmindustrie wie der amerikanischen. Wenn die jemanden neu auf dem Schirm haben, wollen einfach alle erst mal wissen, wer das denn ist. Und ob die überhaupt Englisch kann. Ich vergleiche es gern mit dem Fußball. Wenn da ein neuer Spieler oder neue Spielerin irgendwo in der Provinz auftaucht, kann es sich auch kein Verein leisten, sich die nicht zumindest mal anzugucken.
Traf Sie das unvorbereitet?
Alles, was mit „Unorthodox“ passiert ist, traf uns komplett unerwartet. Noch wenige Tage vor dem Launch hat man uns ja gesagt, dass für die Serie keine Werbung geschaltet wird. Was es dann genau war, das dann plötzlich alles verändert hat, weiß ich bis heute nicht genau. Ich könnte mir vorstellen, dass es der Artikel in der New York Times war, wo wir zum „Critic’s Pick“ ernannt wurden. Jedenfalls lief unser Trailer plötzlich sogar auf dem Times Square, in Berlin hingen riesige Plakate, und die Serie wurde ein globaler Erfolg. Selbst in der arabischen Welt, das finde ich immer noch das Erstaunlichste. Und dann lernte ich jedenfalls im Mai oder Juni 2020 bei einem dieser virtuellen Meetings die Produzentin Dede Gardner kennen. Im Hintergrund sah man Palmen, sie kam gerade vom Work-out und wir unterhielten uns über Gott und die Welt und natürlich auch Politik und Corona.

Die von ihr inszenierte Netflix-Serie „Unorthodox“ wurde 2020 zu einem internationalen Erfolg, als erste deutsche Regisseurin wurde Schrader dafür mit einem Emmy ausgezeichnet. Ihr Science-Fiction-Liebesfilm „Ich bin dein Mensch“ gewann vier Deutsche Filmpreise. „She Said“ ist ihre erste Hollywoodproduktion.
Maria Schrader lebt in Berlin.
War damals schon von „She Said“ die Rede?
Sie erwähnte, wenn ich mich richtig erinnere, vage ein Projekt. Aber ich bin dann ohnehin erst einmal in die Dreharbeiten von „Ich bin dein Mensch“ gegangen. Im Winter meldete Dede sich dann wieder und bat um ein Treffen. Das Projekt war so weit, es gab ein Drehbuch und ich war die erste Regisseurin, die sie kontaktierte. Sie hatte meine Arbeiten gesehen und sagte: „Wenn du das willst, wir bieten Dir die Regie an.“ Mich hat das sehr beeindruckt. Nicht nur diese einnehmende Produzentengeste, sondern auch das Drehbuch selbst. Und natürlich die Tatsache, dass ausgerechnet diese Geschichte überraschenderweise in meinem Schoss gelandet war. Wobei … So überraschend, wie ich im ersten Moment dachte, war es dann vielleicht doch nicht.
Warum nicht?
Weil ich durchaus eine Verwandtschaft erkenne zwischen „Unorthodox“ und diesem Stoff. Auch „She Said“ erzählt letztlich von einer Kollision des Privaten und der Gesellschaft, mit einer besonderen Intimität im Zentrum. Und dass ich maximal weit von Hollywood entfernt bin, passt auch ganz gut zu dem eigentlichen Geist dieses Films. Es geht nicht um den Täter, es geht um die beiden Journalistinnen. Und die waren ja auch maximal weit von Hollywood entfernt und hatten keine Verbindung zu dieser Welt. Genau wie sie war ich frei vom Verdacht der Befangenheit. Und so sehr die Geschichte natürlich eine sehr spezifische und auch sehr amerikanische ist, geht sie letztlich eben doch weit darüber hinaus. Es geht um Verbrechen, die überall auf der Welt stattfinden. Im Weitesten geht es auch darum, was es bedeutet, als Frau in einer männerdominierten Gesellschaft aufzuwachsen, unterrichtet und ausgebildet zu werden und zu arbeiten.
Der Film konzentriert sich ganz auf die Arbeit der beiden „New York Times“-Reporterinnen und ihre Enthüllungen. Harvey Weinstein selbst kommt praktisch nicht vor, auch seine Taten werden nicht gezeigt. Wie früh wurden diese Entscheidungen getroffen?
Schon im Drehbuch gab es keine Darstellung seiner Übergriffe. Aber es war uns auch wichtig, im Film keine weibliche Nacktheit zu zeigen und auch kein Opfer an einem Tatort. Das ergab auch Sinn, eben weil wir fast komplett die Perspektive von Jodi Kantor und Megan Twohey einnehmen. Wir erleben im Film also letztlich von Weinstein das, was sie mitbekommen haben. Aber gleichzeitig verwenden wir zum Beispiel den Mitschnitt, auf dem man den echten Weinstein und Ambra Battilana Gutierrez hört, und mussten uns überlegen, wie wir das bebildern. Wir haben uns entschieden, dass sich die Kamera durch Hotelflure bewegt und Raum lässt für die Bilder, die in den Köpfen des Publikums entstehen. Ich glaube nicht, dass ich durch Gewaltdarstellung etwas Neues oder Interessantes erschaffen könnte. Ich glaube aber, dass die Art, wie sich der Film auf die Frauen konzentriert, die selbst ihre Geschichten erzählen, durchaus neu und ungewöhnlich ist.

Wo Sie gerade das echte Tape erwähnen, das damals der New Yorker Polizei vorlag: Die Realität hält in Ihrem Spielfilm immer wieder Einzug. Die Schauspielerin Ashley Judd, die ein Opfer Weinsteins war und zu den ersten gehörte, die das in der New York Times publik machten, spielt beispielsweise sich selbst. Warum dieses Verwischen der Grenzen zwischen Realität und Fiktion?
Ashley Judd ist eine entscheidende Person und die einzige berühmte Schauspielerin gewesen, die erlaubt hat, dass ihr Name, ihre Geschichte verwendet werden darf. Sie hat entscheidend dazu beigetragen, dass der Artikel veröffentlicht werden konnte. Als sie Jodi anruft und endlich zustimmt, ist allen Beteiligten und eben auch dem Publikum klar: Jetzt ist die Sache nicht mehr aufzuhalten! An dieser Schlüsselstelle eine fiktive Schauspielerin zu erfinden oder Ashley von jemand anderem spielen zu lassen, hätte vielleicht funktioniert. Aber warum? Meine erste Anmerkung nach der Lektüre des Drehbuchs war, dass wir Ashley fragen müssen. Wir waren uns alle einig. Lustigerweise war sie dann auch die Erste, die ich nicht via Zoom, sondern in echt kennenlernte. Sie war zufällig in Berlin und wir haben uns im Café Schönbrunn zum Gespräch getroffen. Dass Ashley sich selbst spielt, ist so ein starker und großartiger Moment im Film. Auch Gwyneth Paltrows echte Stimme ist im Film zu hören. Es ist außergewöhnlich, diese „Echtheit“ in einem Spielfilm zu integrieren, wie wenn im Theater die vierte Wand plötzlich wegfällt, überraschend und aufregend. Genau wie die Tatsache, dass wir im echten Gebäude der New York Times drehen konnten.
Apropos New York Times: Dort konnten Sie nur deswegen drehen, weil wegen Corona alle im Homeoffice waren. Was bedeutet der reale Schauplatz am Ende für „She Said“?
Das war schon Wahnsinn, dort hineinzudürfen, wo Außenstehende sonst nie hinkommen, und mit 350 Statisten diese leere Bühne zu bespielen. Die New York Times ist neben Zoe Kazan, Carey Mulligan und den anderen fantastischen Darstellern auch ein „big player“ im Film. Dass wir dort drehen konnten, war nicht nur für die Authentizität wichtig, sondern auch weil es zeigt, wie sehr sich die Zeitung mit dieser Geschichte identifiziert. Nicht nur Jodi und Megan, die auch aktiv am Drehbuch mitgearbeitet haben, sondern auch die Vorstandsriege, die das alles ebenfalls absegnen mussten, damit wir als erste Spielfilmproduktion überhaupt Zutritt zum Gebäude bekamen. Wie es natürlich, bis hin zu den Quellen, die in der Geschichte zu Wort kommen, sehr viele Menschen gab, mit denen für ein Projekt mit solch einem Wahrheitsgehalt Rücksprache gehalten wurde.
Klingt mühsam!
Nein, es war abenteuerlich und interessant. Ich musste schon meine Hausaufgaben machen, recherchieren, Gespräche führen, Kenntnis erwerben, jedes Wort auf der Leinwand musste durch die Hände von Anwälten gehen. Es brauchte eine nötige Portion Selbstbewusstsein, um mir selbst und allen klarzumachen, dass es hier dennoch nicht um einen Dokumentarfilm, sondern eine Fiktionalisierung geht. Jede Wahl einer Schauspielerin, jedes Bild, das wir komponieren – alles ist eine künstlerische Interpretation der Wirklichkeit.
Hatten Sie dieses Selbstbewusstsein denn immer? Oder gab es auch Momente, wo Sie nicht sicher waren, ob Sie sich ein Projekt dieser Größenordnung zutrauen?
Ich habe geglaubt, dass ich das kann, ja. Das ist eine instinktive Verbindung, die ich mit einem Projekt eingehe, das war bei „Unorthodox“ auch so. Natürlich gab es Dinge, die mich eingeschüchtert haben und mir fremd waren, etwa die Art und Weise, wie amerikanische Sets gewerkschaftlich geordnet sind. Da musste ich einiges lernen. Aber die Größe der Produktion und die Zahl der Mitarbeiter, wovor mich einige gewarnt hatten, hat mich nicht erschreckt. Eher hat mich die Tatsache nervös gemacht, unter all diesen intellektuellen Schwergewichten die Einzige zu sein, die nicht muttersprachlich englisch spricht. Die Wahl der richtigen Worte ist ja gerade in der Arbeit mit Schauspielern enorm wichtig. Doch das habe ich in einzelnen Gesprächen mit ihnen vorab besprochen, einfach damit klar ist, dass ich Fehler mache und vielleicht falsche Worte verwende oder nicht um jede Nuance weiß. Mit meinem Assistenten, der Italiener war, oder mit der argentinischen Kamerafrau war das ohnehin wieder ganz anders. Und im Grunde geht es auch, egal welche Sprache du sprichst, beim Drehen eines Films immer um die gleichen Dinge. Man muss seinen Plan offenlegen, klar in der Kommunikation sein und eine Atmosphäre des Vertrauens etablieren. Diese Parameter sind letztlich bei jedem Film die gleichen, egal wo man ihn dreht oder wovon er handelt.




