Neu im Kino

„Die stillen Trabanten“: Dieser Film lässt Menschen im Dunkeln leuchten

Nach „Herbert“ und „In den Gängen“ erzählen wieder Thomas Stuber und Clemens Meyer mit wunderbaren Schauspielern von Menschen mit verletzter Seele.


Lilith Stangenberg spielt Aischa, Albrecht Schuch einen Mann mit schlecht besuchtem Imbiss.
Lilith Stangenberg spielt Aischa, Albrecht Schuch einen Mann mit schlecht besuchtem Imbiss.Sommerhaus Filmproduktion/Warner Bros. Entertainment GmbH Film

Christa geht nach der Schicht in die Bahnhofskneipe. Birgitt sitzt dort auch, ebenfalls allein an einem Tisch. Jens trifft seine Nachbarin Aischa beim heimlichen Rauchen und muss am nächsten Tag in seinem Bistro vor ihrem Mann so tun, als kenne er sie nicht. Erik kommt bei seinem Gang ums Ausländerwohnheim immer wieder bei dem schaukelnden Mädchen vorbei, würde gern was sagen, weiß aber nicht, wie. Es sind Bilder, die in diesem Film von Thomas Stuber die Worte „einsam“ oder „Sehnsucht“ formen.

Sie müssen nicht ausgesprochen werden, so, wie sie in dem Buch, nach dem der Film entstand, nicht fallen. Clemens Meyer hat sie in seinem Erzählungsband „Die stillen Trabanten“ aus Situationen buchstabiert, aus Wiederholungen, aus Dialogen mit mehr Fragen als Antworten oder mit Antworten, für die keine Fragen gestellt wurden. Der Film wirkt durch die Atmosphäre, die aus den drei Geschichten spricht, die im Buch einzeln erzählt sind und sich hier parallel entwickeln. Sie passieren zur gleichen Zeit in der Stadt, in der man Leipzig erkennen mag, die aber hier wenig Konkretes hat. Sie wären auch in Berlin oder Rostock möglich oder in Gelsenkirchen, wo der Westen wie der Osten ist (was Gregor Sander in „Lenin auf Schalke“ erzählt). „Die stillen Trabanten“ ist ein Großstadtfilm ohne Boulevards und Plätze, er spielt am Bahnsteig, im Hochhaus, vor dem Zaun. Dort, wo normalerweise die Scheinwerfer nicht stehen.

Einsam in der Bahnhofskneipe

Man könnte die Geschichten klein nennen. Aber das wäre falsch – nicht nur, weil für die Figuren Wichtiges passieren wird, sondern auch, weil sie so reich sind an Wärme und Menschlichkeit. Leise sind sie. Das entspricht dem Stil des Schöpfer-Duos. Der Regisseur Thomas Stuber und der Schriftsteller Clemens Meyer bringen mit „Die stillen Trabanten“ ihren dritten gemeinsamen Spielfilm ins Kino (sie haben auch zwei Fernsehkrimis und einen Kurzfilm zusammen gemacht, aber die sind anders). „Herbert“ um einen Boxer, der nicht mehr boxen kann, bekam 2016 den Deutschen Filmpreis in Silber. Die unter den Angestellten eines Großmarkts angesiedelte Liebesgeschichte „In den Gängen“ lief 2018 im Wettbewerb der Berlinale.


Nastassja Kinski (links) und Martina Gedeck spielen zwei Frauen, die viele Enttäuschungen hinter sich haben.
Nastassja Kinski (links) und Martina Gedeck spielen zwei Frauen, die viele Enttäuschungen hinter sich haben.Sommerhaus Filmproduktion/Warner Bros. Entertainment GmbH Film

Thomas Stuber lässt im neuen Film fast alles in der Nacht spielen, wo die Unauffälligen noch weniger sichtbar sind. Christa arbeitet als Reinigungskraft bei den Zügen. Eine körperlich fordernde Arbeit mit unangenehmen Überraschungen und einem strengen Zeittakt. Ein Vorgesetzter maßregelt sie, der Zuschauer hört die Stimme des Mächtigen, sieht aber nur Christas unruhigen Blick. „Sie werden nachlässig, Frau Fischer.“

Vom Kneipier, der ihr mit der Frage „Noch ’ne kleine Maria?“ nachschenkt, sieht man auch nicht viel mehr als einen Schatten. Doch die blonde Birgitt mit ihrem Glas Sekt ist gut zu sehen. Sie kommen ins Gespräch, sehr vorsichtig erst, als würden sie einander umkreisen, um im gesicherten Abstand herauszufinden, ob sie Nähe zulassen wollen. Martina Gedeck und Nastassja Kinski spielen die zwei Frauen wie zwei Angeschossene, Verwundete, die sich nur mit Willenskraft aufrecht halten. Doch ihre Begegnung schenkt ihnen einen Traum.

Auch über Jens weiß man nicht viel. Man kann deuten, dass er sich sein kleines Bistro mühsam aufgebaut hat, von seinem Mitarbeiter kluge Sprüche hört, aber kaum Hilfe erfährt. Albrecht Schuch spielt ihn als gutmütigen, patenten jungen Mann, der sich für Aischa (Lilith Stangenberg), die mal Jana war, nicht nur wegen ihrer von einem Kopftuch umrahmten Schönheit interessiert, sondern wegen ihrer Verdruckstheit. Was traut sich die zum Islam konvertierte Deutsche nicht zu sagen? Dass er ihr die Trabanten in der Ferne zeigen will, die Lichter der Nacht, klingt wie ein scheues Versprechen.

Wer steckt in der Wachschutz-Uniform

Der Wachmann Erik streift mit seinem Schäferhund am Zaun entlang, die Schaukel quietscht. Marika (Irina Starshenbaum) ist eigentlich zu alt zum Schaukeln, aber vielleicht gibt ihr diese Bewegung Trost. Erik, gespielt von Charly Hübner, holt seit der Schulzeit verschüttete russische Vokabeln hervor, als er sie anspricht. Der Film lässt zunächst in der Schwebe, was ihn so zu ihr zieht. Dabei suggeriert er nicht, dass der Wachmann das Mädchen angreifen, überwältigen könnte. Charly Hübner lässt den Erik an sich und seinen Gedanken leiden.


Der Wachmann Erik (Charly Hübner) möchte das Mädchen (Irina Starshenbaum) hinter dem Zaun kennenlernen.
Der Wachmann Erik (Charly Hübner) möchte das Mädchen (Irina Starshenbaum) hinter dem Zaun kennenlernen.Sommerhaus Filmproduktion/Warner Bros. Entertainment GmbH Film

Wie schon bei „Herbert“ und „In den Gängen“ fasziniert Thomas Stubers und Clemens Meyers Blick voll Zuneigung auf Personen, die normalerweise nicht gesehen werden. Wenn man sich in einen Zug setzt, hat der sauber zu sein. Wenn eine Frau sich fürs Kopftuch entscheidet, wird sie schon ihre Gründe haben. Und wen interessiert schon, dass in einer Wachschutz-Uniform ein Mensch mit einer Biografie steckt? Hier aber bleibt die Kamera bei ihnen.

Auch dadurch, dass das Szenenbild für die jeweiligen Figuren kaum wechselt, sie nur in einem relativ kleinen Radius unterwegs sind, hat man beim Zuschauen viel Zeit, sich Gesichter, Gesten, Bewegungen einzuprägen, genug Ruhe, die Dialoge genau zu hören. Wärme strahlt aus diesen Episoden, die in rauer Gegenwart verortet sind. Für das Strahlen sorgen auch die Schauspieler, die hier gleichrangig agieren als Ensemble, auch wenn sie nur paarweise gemeinsame Auftritte haben. „Die stillen Trabanten“ ist ein sensibel gedrehter Film, der Zuversicht stiftet.

Die stillen Trabanten. Deutschland 2022. Regie: Thomas Stuber; Drehbuch: Thomas Stuber, Clemens Meyer; Kamera: Peter Matjasko; Darsteller: Martina Gedeck, Albrecht Schuch, Charly Hübner u. a. FSK ab 12