Kino

Mit „Oppenheimer“ zündet Christopher Nolan einen Blockbuster des Geistes

Mit der atemberaubenden Filmbiografie über den Vater der Atombombe, „Oppenheimer“, führt Christopher Nolan das epische Kino zu neuen Höhen. Die Kritik.

Cillian Murphy spielt die Titelrolle in „Oppenheimer“.
Cillian Murphy spielt die Titelrolle in „Oppenheimer“.Universal Pictures

Das Kino, diese spannungsverliebte Kunst, hatte immer schon eine Faszination für Bomben. In Stummfilmkomödien hantierten bärtige Schurken mit ihnen, und Alfred Hitchcock verzieh sich nie, dass er in seinem frühen Film „Sabotage“ zum Zorn des Publikums das unschuldige Kind eines Terroristen in die Luft jagte. Jeder Film, der mitreißen möchte, ist wie eine funkelnde Zündschnur, die vor unseren Augen abläuft. Der Knall am Ende ist dann oft nur noch Nebensache.

Christopher Nolan ist vielleicht der versierteste Bombenbauer des Films seit seinem Vorbild Stanley Kubrick. Seine überlangen Filme rechnen mit jeder Sekunde, und dabei spielt es keine Rolle, ob wie in „Dunkirk“ Hunderte Soldaten um ihr Überleben kämpfen. Oder ein Physikprofessor an der Tafel eine Gleichung löst.

„Oppenheimer“, sein wohl bedeutendster Film, ist ein Blockbuster des Intellekts, ein Thriller über Forscherdrang, Schuld und falsche Anschuldigungen. Sein Jahrhundertthema übersetzt er in eine Form, die Jahrhunderte überdauern will. Seit seinem Frühwerk „Memento“ ist Nolan ein Virtuose dieses Uhrwerks namens Kino. Auch hier hört man die Unruhe gleich von Beginn an ticken, doch noch nie hat jemand über eine Laufzeit von drei Stunden das Tempo durchgehend und mit so langem Atem angezogen.

Der zentrale Handlungsstrang ist die Sicherheitsanhörung, zu der Robert Oppenheimer 1954 geladen wurde. Hochgeehrt in der unmittelbaren Nachkriegszeit, war der Physiker zusehends in Konflikt geraten mit seiner Rolle als „Vater der Atombombe“. Als Vorsitzender des Beratungskomitees der amerikanischen Atomenergiebehörde AEC warnte er vor dem Bau der Wasserstoffbombe und einem neuen Wettrüsten. Das brachte ihn in Konflikt mit dessen Vorsitzenden Lewis Strauss, der ihn in der McCarthy-Zeit als möglichen Sowjetspion denunzierte.

Immer wieder hat sich Hollywood an den Kommunistenjägern abgearbeitet, die ja auch in der Traumfabrik ihr Unwesen trieben. Nolan kann auf ihre eitlen Selbstinszenierungen weitgehend verzichten, ihn interessiert, was der Verlust der Meinungsfreiheit für einen Wissenschaftler bedeutet. Prometheus habe den Göttern das Feuer geraubt, heißt es am Filmanfang, „zur Strafe fesselten sie ihn an einen Stein und folterten ihn bis in alle Ewigkeit“.

Minutenauftritte für Kenneth Branagh und Matthias Schweighöfer

Rückblenden streifen den Weg des Harvard-Absolventen nach Göttingen zu den deutschen Pionieren der Quantenphysik; die immensen Kraftanstrengungen der Amerikaner, den Nazis beim erwarteten Bau einer Atombombe zuvorzukommen, nehmen angemessen breiten Raum ein. Namhafte Nebenrollen tragen auch auf der Besetzungsliste große Namen, auch wenn Kenneth Branagh (Niels Bohr) oder Matthias Schweighöfer (Werner Heisenberg) nur Minutenauftritte haben.

Doch das Verhör-Bombardement und sein Niederschlag bei einem längst an Selbstzweifeln aufgeriebenen Intellektuellen orchestriert Nolan zum eigentlichen Kriegsfilm. Cillian Murphy, der in „Dunkirk“ noch einen zitternden Soldaten gespielt hatte, macht als Oppenheimer sein um Reglosigkeit bemühtes Gesicht zum Schlachtfeld. Nolan filmt es wie den ganzen Film mit 70mm-breitem Zelluloid und verleiht ihm eine tragische, faszinierende Wucht. Man fühlt sich an Carl Theodor Dreyers Stummfilm „Die Passion der Johanna von Orleans“ erinnert, diesen Urahn aller Tribunalfilme, der sich ganz im Gesicht der Laiendarstellerin Maria Falconetti abspielte.

Je mehr dieser perfide Akt der Hexenverfolgung ausartet, desto wichtiger wird die Filmmusik. Der Schwede Ludwig Göransson überträgt den Rhythmus der Bilder in ein Stakkato mit Mut zur Atonalität. Zusätzlich bricht Nolan das Pastiche aus Verhörszenen und Rückblenden auf mit Mitteln des experimentellen Films, zerschundenes Filmmaterial kommentiert den Angriff auf Oppenheimers Identität und die bis dahin gültigen Ordnungssysteme seines Geistes.

Die politischen Folgen von Oppenheimers Erfindung beschreiben die eigentliche Relativitätstheorie, um die es hier geht: Die beim Kriegsende als Segen verkaufte Zahl der japanischen Todesopfer, die angeblich so vielen anderen Zivilisten das Leben gerettet hätten, verblasst angesichts der Vernichtungskraft der Wasserstoffbombe. Präsident Truman, gespielt von Gary Oldman, hält Oppenheimers Bedenken für die feigen Auswüchse eines schlechten Gewissens. Doch dessen Selbstkritik steht seinem politischen und wissenschaftlichen Ehrgeiz nicht im Weg. Gerade weil es ihm gelingt, seinen Ruhm in der Presse meinungsbildend einzusetzen, wird er für die Regierung zur Gefahr.

„Oppenheimer“ könnte moderner nicht sein

In der gegenwärtigen Diskussion über das neue Wettrüsten, unmenschliche Waffen und die Rückkehr des Kalten Kriegs könnte Nolans Film moderner nicht sein. Jeder Tag, an dem über Streubomben oder Nato-Erweiterungen diskutiert wird, sollte eigentlich dieselben ethischen Debatten entflammen. Hören wollte sie schon damals niemand.

Aber auch künstlerisch ist dieser Film eine Lektion aus einer vergangenen Zeit. In den letzten Tagen, als ein Presseembargo nach den ersten Vorführungen herrschte, überboten sich prominente Premierenbesucher vor Begeisterung. Regisseur und Autor Paul Schrader nannte „Oppenheimer“ den besten Film des Jahrhunderts. Robert Downey Jr., im Film als Lewis Strauss zu sehen, pries Nolans geradezu anachronistische Arbeitsbedingungen: „Da laufen nicht diese vielen Leute mit Telefonen herum. Es gibt kein Videodorf, keinen Stuhl mit dem Namen darauf, es war spartanisch – fast eine klosterhafte Atmosphäre.“

So sehr das klassische Erzählkino derzeit um sein Überleben kämpft, wie in seinen früheren Krisen findet es dabei auch zu ungekannten Höhen. So wie viele der letzten Filme der Stummfilmzeit der Zwanzigerjahre besondere künstlerische Triumphe waren oder im Schatten des Kinosterbens um 1960 die Nouvelle Vague begann. Paul Schrader bringt es auf den Punkt: „Wenn Sie sich dieses Jahr nur einen Film ansehen, dann diesen.“

Oppenheimer. USA 2023. Regie: Christopher Nolan. Mit Cillian Murphy, Emily Blunt, Robert Downey Jr., 180 Minuten