Kino

Zwischen Profit und Prestige: Der Weg der großen Schauspielerin Jennifer Lawrence

Jennifer Lawrence ist mit „No Hard Feelings“ zurück auf der Kinoleinwand. Warum war sie jahrelang weg? Ein Porträt der Oscar-Preisträgerin.

Jennifer Lawrence bei der Premiere zu „No Hard Feelings“
Jennifer Lawrence bei der Premiere zu „No Hard Feelings“Carsten Koall/dpa

Splitternackt und entschiedenen Schrittes steigt die Barkeeperin und Uber-Fahrerin Maddie, verkörpert von Jennifer Lawrence, in „No Hard Feelings“ aus dem Meer am nächtlichen Strand von Montauk, um eine Gruppe jugendlicher Rowdys zu vermöbeln. Die haben nämlich gerade die im Sand liegenden Klamotten von Maddie und ihrer Begleitung Percy gestohlen. Zum 80er-Jahre-New-Wave-Hit „Maneater“ von Daryl Hall & John Oates sehen wir gezielte Angriffe, Tritte und Schläge – dann kehrt Maddie triumphierend zu ihrem verblüfften Date in die Wellen zurück.

Zu Beginn dieser Szene hatte Percy die ungehemmte Maddie beim Entkleiden noch ängstlich darauf hingewiesen, dass der Horrorfilm „Der weiße Hai“ exakt auf diese Weise anfange: Eine junge Frau steigt nachts ins Wasser – und prompt muss etwas Schlimmes passieren. Aber Maddie lässt sich, wie sich herausstellt, nicht so leicht zum Opfer machen. Zur Not wirft sie mit Sand und Schimpfworten um sich, brüllt und kämpft. Da hätte wohl selbst ein hungriger Hai keine Chance: „Watch out, boy, she’ll chew you up!“

In einem Interview sagte die 1990 in Louisville, Kentucky geborene Schauspielerin Jennifer Lawrence einmal, sie entwickle schnell das Bedürfnis, eine Figur, die sie gern spielen wolle, vor einer Fehlinterpretation zu beschützen. Sie habe dann die Befürchtung, die Figur könne als Wehrlose oder als Schurkin angelegt oder auf andere Art missverstanden werden. Vermutlich konnte sie deshalb auch nicht ablehnen, als sie das Skript zu „No Hard Feelings“ erhielt, obwohl sie kurz vorher ihr erstes Kind mit ihrem Ehemann, dem Kunsthändler Cooke Maroney, bekommen hatte.

In dieser Komödie von Gene Stupnitsky nun gerät die 32-jährige Protagonistin Maddie in finanzielle Schwierigkeiten, woraufhin sie auf die Anzeige eines Helikopter-Elternpaares reagiert. Sie soll dessen Sohn Percy daten und dem introvertierten 19-Jährigen die erste sexuelle Erfahrung bescheren, um dafür mit einem schicken Auto entlohnt zu werden. Das klingt zugegebenermaßen nach extrem peinlichem „Eis am Stiel“- und „American Pie“-Klamauk. Lawrence nutzt den Stoff jedoch für virtuose Körperkomik, die an Screwball-Königinnen wie Katharine Hepburn, Barbra Streisand und Goldie Hawn erinnert.

Für eine Weile war es ziemlich ruhig geworden um Lawrence. Als sie Anfang 2018, mitten in der Promotion-Tour für den Actionthriller „Red Sparrow“ um eine russische Primaballerina und Spionin, eine Auszeit vom Rampenlicht ankündigte, sorgte das für große Verwunderung in der Branche und unter Fans. Denn Lawrence war an diesem Punkt in einem erstaunlich jungen Alter in der Top-Liga Hollywoods angekommen. 2015 und 2016 war sie laut Forbes-Magazin jeweils die bestbezahlte Schauspielerin des Jahres. Auf drei Oscar-Nominierungen und einen Oscar-Gewinn für die Hauptrolle in David O. Russells tragikomischer Romcom „Silver Linings“ konnte sie da schon zurückblicken – ein Altersrekord.

Der rasche Aufstieg in den Star-Olymp mag oberflächlich betrachtet so wirken, als sei er völlig aus dem Nichts, wie im Märchen über Nacht geschehen. In Debra Graniks harter Indie-Milieustudie „Winter’s Bone“ gab Lawrence 2010 eine zähe, adoleszente Heldin in einer tristen Gegend in Missouri, die ihren Vater, einen Crystal-Meth-Koch, aufspüren muss, um ihre Familie davor zu bewahren, auf der Straße zu landen. Erstmals war Lawrence damit im Oscar-Rennen vertreten. Diesem glorreichen Durchbruch waren indes einige Lehrjahre vorausgegangen, in denen Lawrence ein Casting nach dem anderen besuchte, nachdem sie ein Talentscout 2005 während eines Urlaubs mit ihrer Mutter in New York City entdeckt hatte. Sie absolvierte unter anderem Gastauftritte in TV-Krimis, gehörte zum Cast einer kurzlebigen Sitcom und war in einigen kaum beachteten Filmen zu sehen. Vorsprechen für die Hauptrollen in der Teen-Soap „Gossip Girl“ und in der Vampir-Love-Story „Twilight“ blieben erfolglos – worüber sie sich damals mächtig geärgert haben soll. Wahrscheinlich hatte der von ihr beschriebene beschützende Instinkt für die Figuren in diesen Momenten bereits eingesetzt.

Etwas später meinte Lawrence, sie beneide ihre Kollegin Kristen Stewart, die den „Twilight“-Job letztlich bekam, keineswegs um deren Ruhm: Sie könne sich nicht vorstellen, wie sie selbst sich fühlen würde, wenn ihr Leben plötzlich so in Aufruhr geraten würde. Doch genau das geschah alsbald. Zum Casting des ersten Teils der „Tribute von Panem“-Reihe sei sie angeblich nur gegangen, um dem Regisseur Gary Ross wütend zu erklären, weshalb die von ihr geliebte Jugendbuchtrilogie von Suzanne Collins auf gar keinen Fall verfilmt werden dürfe. Ross und sie seien sich, so erzählt es Lawrence, dann allerdings in allen Fragen zur Umsetzung überraschend einig gewesen. Und so konnte die aus vier Filmen bestehende Coming-of-Age-Dystopie, die zwischen 2012 und 2015 entstand, Lawrence zum umjubelten Popkultur-Idol machen, vergleichbar mit dem „Twilight“-Paar Stewart und Robert Pattinson und dem „Harry Potter“-Trio Daniel Radcliffe, Emma Watson und Rupert Grint.

Die 16-jährige Katniss, die sich in „Die Tribute von Panem“ anfangs zum Schutz ihrer kleinen Schwester freiwillig für die live übertragenen „Hungerspiele“ meldet und in einer futuristischen Arena ums blanke Überleben kämpft, wird in Lawrences energischer Interpretation zur zweifellos facettenreichsten Hauptfigur im breiten filmischen Young-Adult-Segment, das seit den „Harry Potter“-Adaptionen etliche Varianten um Kids und Teens in Fantasy-Settings hervorgebracht hat: Lawrence spielt Katniss als traumatisierten Menschen, der sich in jungen Jahren einer politisch-sozialen Verantwortung ausgesetzt sieht und im Gefecht gegen die Unterdrückung Pfeil und Bogen, in erster Linie aber seinen scharfen Verstand einsetzt.

Parallel zu dieser Paraderolle nahm Lawrence noch in einem weiteren Blockbuster-Franchise eine zentrale Position ein: In vier „X-Men“-Abenteuern bewegt sie sich als Formwandlerin Raven aka Mystique stets ambivalent zwischen der guten und der bösen Seite. Die rebellische Mutantin ist komplex, keine reine Schurkin – also exakt das, was sich Lawrence für ihre Figuren wünscht.

Über Jahre hinweg gelang Lawrence der Spagat zwischen profitablen Popcorn-Knüllern und prestigeträchtigem, jedoch durchaus zugänglichem Arthouse, durch den sie mit Presselob und Filmpreisen bedacht wurde. So steht sie etwa in „Silver Linings“ als junge Witwe neben Bradley Cooper im Mittelpunkt einer Liebesgeschichte, die ganz ohne Kitsch und Klischees, in einer ungewöhnlichen Mischung aus Absurdität und Wahrhaftigkeit von der Teilnahme zweier aus dem Alltag gefallenen Menschen an einem lokalen Tanzwettbewerb erzählt.

Als öffentliche Person mutete Lawrence in dieser Phase ihrer Karriere immer so an, als sei das alles ein Leichtes für sie: Die Leute in Talkshows mit ihrem rumpeligen Charme für sich einzunehmen, zum Beispiel mit amüsanten Schilderungen zu ihrem betrunkenen Alter Ego „Gail“, und sich zugleich ernsthaft, mit lautstarker Stimme zu positionieren, unter anderem wenn es um den Mangel an Geschlechtergerechtigkeit in der Filmindustrie (und darüber hinaus) geht. Als es 2014 zu einem Hackerangriff auf private Fotos von Schauspielerinnen und Sängerinnen kam und dieser als „Celebgate“ für billige Schlagzeilen ausgebeutet wurde, brachte Lawrence den systemimmanenten Sexismus treffend auf den Punkt, indem sie deutlich machte, dass es sich dabei nicht um einen „Skandal“, sondern um einen sexuellen Übergriff handele.

Ihre Pause vom Filmgeschäft ab 2018 kommentierte Lawrence im Nachhinein mit eindrücklich radikaler Selbstreflexion: „Ich hatte das Gefühl, alle hatten mich satt. Ich hatte mich selbst satt.“ Die Science-Fiction-Romanze „Passengers“ von Morten Tyldum, in der sie an der Seite von Chris Pratt eine interstellare Reise mit technischen Hindernissen durchlebt, erntete 2016 überwiegend negative Kritiken. Ihre gute Freundin, die Sängerin Adele, habe ihr geraten, den Film nicht zu machen, verrät Lawrence.

Und ihr Ausflug ins sperrige Kunstkino mit Darren Aronofskys „Mother!“ fiel 2017 beim Publikum sogar völlig durch. Die Arbeit an actionbetonten Werken wie „Passengers“ und „Red Sparrow“ habe sie derweil eher als Reagieren, statt als Agieren empfunden, wie sie in einem Interview mit der New York Times erläutert. Sie habe irgendwann angefangen, sich wie ein Promi, nicht wie eine Schauspielerin zu fühlen. Lawrence trennte sich von ihrer Agentur und zog sich vorerst aus der Öffentlichkeit zurück.

Ende 2021 verkörperte sie dann zusammen mit Leonardo DiCaprio in Adam McKays Satire „Don’t Look Up“ ein Wissenschaftsduo, das einen auf die Erde zurasenden Kometen entdeckt. Im Jahr darauf spielte sie in Lila Neugebauers „Causeway“ eine schwer verletzte Soldatin. Das stille, feinfühlige Drama war der erste Film, den sie mit ihrer eigenen Produktionsfirma Excellent Cadaver realisierte. Und nach „No Hard Feelings“ stehen nun diverse weitere Projekte an. Die Zeit des Sattseins scheint vorüber, Lawrence wieder hungrig. Da sind noch viele Figuren, die es zu beschützen gilt. Watch out, Hollywood!