Filmkritik

Bitterschöner Psychotrip: „Der Gymnasiast“ mit Juliette Binoche und Newcomer Paul Kircher

Regisseur Christophe Honoré arbeitet sich an seiner eigenen existenziellen Adoleszenzkrise ab im sehr sehenswerten französischen Coming-of-Age-Drama „Der Gymnasiast“.

Isabelle (Juliette Binoche) und ihr Sohn Lucas (Paul Kircher) im Film „Der Gymnasiast“
Isabelle (Juliette Binoche) und ihr Sohn Lucas (Paul Kircher) im Film „Der Gymnasiast“Jean Louis Fernandez

Fast blickt Lucas in die Kamera. Aber eigentlich schaut er immer knapp daran vorbei, als er uns seine Geschichte erzählt. Fahrig fährt sich der 17-Jährige mit dem Zeigefinger über seine Unterlippe und auch über die Zahnreihen dahinter. Immer wieder gerät er ins Stocken und ins Springen, Überspringen: Nein, von Oscar, seinem Lover, will er nun doch nicht erzählen, noch nicht. Lieber erst mal vom eigenen Vater; davon, wie die beiden einen schlimmen Schock hatten, als sie auf einer Autofahrt von der Straße ins Feld abglitten. Alles noch mal gutgegangen! Eine innige Umarmung. Aber eigentlich, meint Lucas rückblickend melodramatisch, wäre er zu gern in diesen Armen gestorben.

Doch das ist nun nicht mehr möglich, denn zwischenzeitlich hat Lucas’ Vater abermals die Kontrolle übers Lenkrad verloren, tödlich. Oder wollte er es gar so? Lucas jedenfalls scheint außerstande, zu trauern. Er gibt sich lässig, fragt auf der Trauerfeier alle, ob es ihnen gut geht, ça va? Was soll man darauf antworten? Später wird sich Lucas mit seinem großen Bruder Quentin prügeln auf der Terrasse (die beiden schillern eh zwischen Zwist und Zärtlichkeit), und er wird im Bett versuchen, seinen eigenen, plötzlich ausbrechenden Schreikrampf mit seinem Kopfkissen zu ersticken, doch es hilft nicht, seine Glieder krampfen und zucken weiter, bis seine Mutter Isabelle (Juliette Binoche) ihn in den Arm nimmt.

„Der Gymnasiast“, getüncht in fliederblau gefilterte Bilder, ist eine Geschichte von unterschiedlichen Geschwindigkeiten des Trauerns – aber auch die Geschichte eines Aufbruchs. Zwar gibt es kurzfristige gemeinsame Momente des Glücks im Haus der Familie (irgendwo bukolisch, unweit der Alpen), etwa wenn Quentin am Laptop den 1979er Synth-Pop-Hit „Electricity“ von Orchestral Manoeuvres in the Dark anklickt und er und Lucas gemeinsam mit Maman darüber ins Wippen und ins Tanzen geraten. Die Dynamik zwischen den Dreien ist insgesamt eine große Stärke dieses fantastischen Films.

Newcomer Paul Kircher überwältigend facettenreich in „Der Gymnasiast“

Doch eigentlich muss Lucas fort von hier. Er will zu Quentin nach Paris. Quentin versucht dort, als Künstler Fuß zu fassen, seine Bilder sieht man nie. Es wird für Lucas ein Trip aus anonymem Sex, Enttäuschungen und Beichten und auch vielen Hoffnungsschimmern. Er, der Tadzio mit brünettem Haar und Schmollmund (überwältigend facettenreich gespielt von Newcomer Paul Kircher), der oft lächeln kann, wird sich die Pulsadern aufschneiden und eine Weile lang nicht sprechen. Aber trotz allem ist das Leben auch schön. Vielleicht könnte Quentin seine Bilder auch hier in der Psychiatrie-Kantine ausstellen, fragt Isabelle ihn, als die beiden Lucas dort zu Weihnachten besuchen, und alle müssen bitterschön darüber lächeln.

„Der Gymnasiast“, in dem sich der mehrfach nach Cannes eingeladene Regisseur Christophe Honoré an seiner eigenen existentiellen Adoleszenzkrise abarbeitet, nimmt sich liebevoll Zeit für seine Figuren. Was andere Filme reißerisch ausschlachten würden, wird hier zum Bewusstseinsstrom aus zauberschön unaufgeregten Bildern mit viel Liebe für die nicht ganz einfachen Figuren. Ein zweistündiger, intensiver Roadtrip auf der Straße des Erwachsenwerdens. Für die Tränen: Scheibenwischer an!

Der Gymnasiast. Spielfilm, 122 Minuten, ab 30. März im Kino