In den heutigen Debatten gehe es nur noch um Sieg und Niederlage, sagt der Berliner Schauspieler Lars Eidinger. Überzeugen oder überzeugt werden wolle doch keiner. Er habe jedenfalls mehrfach versucht, mit seinen Kritikern ins Gespräch zu kommen, und sei immer gescheitert, erzählt er im Interview anlässlich des neuen Films über ihn: „Lars Eidinger – Sein oder nicht sein“.
Dass es einen Film über sie gibt, können wahrscheinlich nicht so viele Schauspieler von sich sagen: Lars Eidinger – der Film. Wie fühlt sich das an, Herr Eidinger?
Ja. Ich merk das jetzt auch. Wenn ich Leute zur Premiere einlade.
Ist Ihnen das peinlich?
Peinlich nicht. Aber wenn ich sage, hast du Lust, dir diesen Film anzugucken, und dann gefragt wird: Was ist denn das für ein Film? – Ja, „Lars Eidinger – Sein oder nicht sein“. Dann merke ich schon, dass das seltsam ist
Ist ja auch ein bombastischer Titel.
Meine Frau hat neulich gesagt, sie finde ihn viel zu prätentiös. Eigentlich war das Gegenteil gemeint. In dem Film geht es sehr viel darum, was das eigentlich ist: spielen. Was es bedeutet, Schauspieler zu sein. Viele Schauspielerinnen und Schauspieler würden sagen, dass es bei ihrem Beruf um Verwandlung geht. Darum, eine Rolle zu spielen.
Und Sie werden auf der Bühne Sie selbst, wie Sie im Film sagen. Aber was ist, wenn Sie wie in dem Film „Persischstunden“ einen SS-Mann spielen, der im KZ arbeitet?
Der bin ich natürlich auch. Klar. Man tut sich als Schauspieler keinen Gefallen damit, wenn man anfängt, die Figuren von sich wegzuhalten, sie als etwas Fremdes zu betrachten. Bei dem Ehrgeiz, das Menschliche in den Figuren zu erkennen, muss man bei sich selber anfangen und schauen, welche Anteile von ihnen man in sich trägt. Einfach, um eine Identifikation zu schaffen. Ich versuche, mich jetzt ganz vorsichtig auszudrücken. Denn ich als weißer, privilegierter Cis-Mann habe eigentlich nicht das Recht, mich überhaupt zur Diversitätsdebatte zu äußern. Das wäre genauso, wenn ich Rassismus erklären würde. Da bin ich der Falsche.
Identifizieren Sie sich mit diesem Satz?
Ich verstehe die Idee. Absolut. Aber wenn man jetzt sagt, dass Schauspielerinnen und Schauspieler künftig nur noch dazu aufgerufen sind zu spielen, was ihrer Identität entspricht, dann würde ich ganz vorsichtig sagen: Die Problematik für mich besteht darin, dass ich gar nicht weiß, wer ich bin. Das ist der Grund, warum ich Schauspieler geworden bin. Die Suche nach Identität. Und deshalb ist „Sein oder nicht sein“ ein wichtiger Untertitel, denn das stammt aus dem „Hamlet“. Und der erste Satz in diesem Stück ist die Überschrift über diese gesamte Auseinandersetzung: „Wer da – Wo’s there?“ – Wer bin ich? Wenn ich auf die Bühne trete, suche ich meine Identität. Und auch wenn ich weiß, dass das ein White-Privilege-Problem ist: Aber wenn ich dazu aufgerufen bin, immer nur einen weißen Cis-Mann zu spielen, dann verliere ich den eigentlichen Impuls, die Bühne zu betreten.
Verstehe. Gibt es Rollen, die Sie aus identitätspolitischen Gründen ablehnen würden?
Diese Entscheidung kommt gar nicht bis zu mir, die haben schon andere getroffen.

Neben seiner Theaterarbeit ist Eidinger immer wieder in Film- und Fernsehrollen zu sehen. Er spielte in Maren Ades „Alle anderen“ mit, in dem Roadmovie„ 25 km/h“. Zuletzt war er in „Die Zeit, die wir teilen“ und „Weißes Rauschen“ zu sehen.
Der Dokumentarfilm über den Schauspieler „Lars Eidinger - Sein oder nicht sein“ von Reiner Holzemer startet am 23. März im Kino.
Wann haben Sie eigentlich beschlossen, Schauspieler zu werden?
Da (er zeigt aus dem Fenster Richtung Westen). Dieses Gebäude. Da habe ich angefangen.
Im Haus des Rundfunks da hinten in Westend, in dem früher mal der SFB saß und jetzt der RBB?
Im Sender Freies Berlin. Als ich zwölf Jahre alt war, gab es im Radio einen Aufruf: Wir suchen Kinder, die in einem Musikvideo mitspielen wollen. Da bin ich zum Casting gefahren. Das war für diese tolle Jugendsendung „Moskito – Nichts sticht besser“. Da wurden Themen behandelt wie erste Liebe, Drogen, Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit, Homosexualität. Und da habe ich mitgemacht. Bald wurde ich für die Sketche gecastet, die zwischen den Beiträgen gesendet wurden. Ich wurde mit einem weißen Bus von der Schule abgeholt, und dann haben wir im Studio diese Sketche produziert. Und ich dachte: Das ist meine Welt. Das ging mir auch auf der Schauspielschule so. Auf der Ernst Busch habe ich gemerkt, wie toll es sein kann zu lernen. Und wie neugierig ich dann wieder geworden bin. In der Schule habe ich nur aus Ehrgeiz gelernt, um gute Noten zu kriegen. Aber nicht aus echtem Interesse.
Als neugierig bezeichnet Sie auch ein ehemaliger Lehrer von der Ernst Busch, der im Film über Sie befragt wird. Und als bescheiden. Darüber muss er dann selbst ein bisschen lachen.
Aber ich bin sehr bescheiden.
„He has a big ego“, sagt Juliette Binoche über Sie. Stimmt das nicht?
Ich bin sicher, dass Leute, die mit mir gearbeitet haben, mich als bescheiden beschreiben würden. Juliette Binoche meint bestimmt nicht, dass ich mit einem großen Ego auf dem Filmset auftrete. Da bin ich mir hundertprozentig sicher.
Juliette Binoche sagt auch, dass man das Gefühl hätte, Sie stünden im Dienst einer Sache, die größer ist als Sie selbst. Können Sie damit was anfangen?
Wenn sich Menschen zusammen in einen Raum begeben, dann entsteht etwas Drittes, das größer ist als die Summe der Anwesenden. Ich stelle mich in den Dienst der Kunst, fungiere als Medium. Ich hatte in dem Film den Ehrgeiz, mit Irrtümern in Bezug auf die Schauspielerei aufzuräumen. Es gibt zum Beispiel Schauspielerinnen, die sagen: Zu spielen heißt zu lügen. Ich würde sagen: Das Gegenteil ist der Fall. Eigentlich geht es darum, aufrichtig zu sein. Es gibt auch Schauspieler, die sagen, sie fühlten sich im Moment des Spiels wie in einem Tunnel. Ich würde sagen, ich befinde mich in einem total offenen, freien Raum, wo plötzlich alles wahrnehmbar ist. Es ist eher eine Form von Bewusstseinserweiterung.

Tunnel, Bewusstseinserweiterung. Das klingt nach Drogenerfahrung.
Die Raupe verpuppt sich und daraus geht ein Schmetterling hervor. Und der kann fliegen, was die Raupe nicht kann. Aber es handelt sich um dieselbe Kreatur. So ist es mit dem Schauspieler und der Rolle.
Ganz viele Künstler arbeiten in der Einsamkeit, zumindest erst mal. Musiker proben allein. Aber Sie sagen, das funktioniert für Sie überhaupt nicht. Im Film legen Sie sich mit dem Regisseur des „Jedermann“ an, der es wagt, mit jemandem zu sprechen, während Sie sich in der Probe grade die Seele aus dem Leib spielen. Warum ist das Publikum für Sie so wichtig?
Interessant, dass Sie das mit dem Instrument ansprechen. Ich drehe grade einen Film mit Matthias Glasner, „Sterben“, da spiele ich einen Dirigenten. Drei Tage lang habe ich deshalb in der Philharmonie ein echtes Orchester dirigiert. Ich musste emotional werden und laut Drehbuch weinen. Am Ende des Drehtags fragte mich einer der Musiker, wie ich das machen würde, auf Knopfdruck zu weinen.
Und?
Meine Frau hat mir mal von der 10.000-Stunden-Regel erzählt: Wer 10.000 Stunden geübt hat, der beherrscht sein Instrument. Und das habe ich dem Musiker geantwortet: Ich habe einfach 10.000 Stunden mein Instrument geübt. Aber es ist dann trotzdem ein virtuoser Moment, der auch fragil ist.
Was meinen Sie?
Das ist so, als ob jemand vier Jahre lang geübt hat, um dann bei der Olympiade im entscheidenden Moment die Latte nicht zu reißen. Ich leiste also in der Probe für „Jedermann“ diese Hochleistung, aber der Regisseur teilt ihn nicht, er hat kein Bewusstsein dafür, sondern tritt aus diesem Moment heraus. Das ist so, als ob der Hochspringer die Latte überspringt und aus dem Augenwinkel sieht, wie der Trainer in dem Moment das Stadion verlässt. Das ist etwas zutiefst Kränkendes. Im Film scheint es, als wäre das schnell eskaliert, in Wahrheit hat es sich über eine halbe Stunde hingezogen. Michael Sturminger hat einfach nicht verstanden, wie wichtig es ist, dass er bei mir bleibt, dass er sich in diese Unterhaltung begibt.
Als Sie sich auf die Prüfung an der Schauspielschule vorbereitet haben, wer hat da zugeguckt?
Meine Eltern, die Nachbarn und mein Bruder. Der konnte damit nicht so viel anfangen. Und die anderen haben brav applaudiert. Wie das so ist, wenn der Sohn oder der Nachbarssohn im Wohnzimmer Theater spielt. Das klingt jetzt so doof, aber eines meiner schönsten Theatererlebnisse hat sich ereignet, als ich mit meinem Bruder im Urlaub in Griechenland war, da war ich gerade ein Jahr auf der Schauspielschule. Wir haben damals ein paar Frauen aus Baden-Baden kennengelernt und sind dann mit denen gemeinsam gereist. Die haben mich die ganze Zeit aufgezogen und gesagt, du bist doch Schauspieler, spiel doch mal was. Ich hab mich erst geziert, aber dann habe ich gesagt: Heute Abend spiel ich was. Ich hab mich dann ins Wohnzimmer unseres Ferienhauses gestellt, mein Bruder hat das Licht aus- und dann wieder angemacht, und dann hab ich gespielt.

Was haben Sie denn gespielt?
Bernard-Marie Koltès’ „Rückkehr in die Wüste“. Da gibt es einen Monolog, da sagt jemand, wenn er hochspringen und es schaffen würde, eine Zeitlang in der Luft zu bleiben, würde sich dann nicht die Erde unter ihm weiterdrehen, und er würde im luftleeren Raum enden und die Erde verlassen. – Ich hab angefangen, und dann haben die mich ausgelacht. Aber über die Dauer des Textes habe ich sie dann für mich eingenommen. Deshalb war das so besonders für mich. Weil ich es geschafft habe, sie in die Unterhaltung zu holen.
Stimmt es wirklich, dass Schuhe für Sie beim Spielen so unglaublich bedeutsam sind?
Ja.
Was tragen Sie denn gerade für welche?
Die sind auch sehr bedeutsam. (legt einen Fuß auf den Tisch) Ich hab so viele Schuhe, aber das sind die einzigen, die ich anziehe. Sie haben Bedeutung dadurch, dass sie von den Anführern der RAF getragen wurden. Ulrike Meinhof und Andreas Baader haben genau diese Schuhe getragen.
Was ist das für ein Schuh?
Das ist der Clark Desert Boot. Es gibt so ein Bild, da laufen Ulrike Meinhof und Andreas Baader über den Gefängnishof und haben diese Schuhe an. Und es gibt auch ein Bild von dem tollen Fotografen Herbert Tobias, der hat Andreas Baader fotografiert, wie er mit freiem Oberkörper vor einem Baum sitzt und diese Schuhe anhat. Und wer die auch getragen hat, war Jörg Fauser, der Schriftsteller.
Tragen Sie die Schuhe, weil die RAF sie getragen hat?
Nein. Mir gefällt dieser Schuh, weil er ein Klassiker ist und etwas Tänzerisches hat. Und der Absatz hat die richtige Höhe für mein Laufgefühl. Den Schuh, den ich als Jedermann trage, habe ich im Kostümfundus gefunden. Der hatte diesen ungewöhnlich hohen Absatz. Weil er so porös war, musste er nachgebaut werden, das hat eine sehr renommierte Schuhmacherin aus Italien gemacht. Zur Anprobe kam sie selbst. Sie konnte es gar nicht glauben, als ich sagte, der Absatz sei nicht so hoch wie beim Original. Naja, vielleicht ein paar Millimeter, sagte sie. – Nee, viel mehr sagte ich. Dann haben wir es nachgemessen und ich hatte recht. Das hat einen echten Konflikt ausgelöst. Sie hat sich angegriffen gefühlt, aber ich meinte es gar nicht böse. Ich war nur so angewiesen auf diese Höhe, denn die hat meinen ganzen Gang definiert.

In dem Film kommt auch die Berlinale-Pressekonferenz zur Sprache, in der sie mit Tränen in den Augen über den Hass sprechen, der in die Gesellschaft eingesickert sei. Anschließend hieß es, Sie hätten Krokodilstränen vergossen. Kritik gab es, als sie den Offenen Brief gegen Waffenlieferungen an die Ukraine unterschrieben haben. Haben Sie den Eindruck, dass es jedesmal, wenn Sie sich nicht als Schauspieler, sondern als politisch interessierter Mensch äußern, heißt: Sei still.
Ich habe das Gefühl, dass da etwas mit einer unverhältnismäßigen Wucht zuschlägt. Deshalb ist auch der Begriff Shitstorm sehr treffend für das, was da passiert. Man wird nicht mit guten, nachvollziehbaren Argumenten konfrontiert, sondern von einem Sturm aus Scheiße angeweht.
Was bewirkt das in Ihnen?
Ich habe danach noch mal ein Schreiben von Volker Lösch bekommen …
Dem Regisseur.
… da ging es darum, dass man die Letzte Generation nicht kriminalisieren solle. Ich bin hundert Prozent dieser Meinung und habe den Brief trotzdem nicht unterschrieben, weil ich keine Lust auf einen weiteren Shitstorm hatte. Denn ich weiß ja, wie hysterisch die ganze Debatte geführt wird. Ich wollte mich dem einfach nicht aussetzen. Das habe ich Volker Lösch geschrieben. Und dass ich den Glauben an die Menschen verloren habe. Dass ich oft das Gefühle habe, die Welt geht gar nicht unter, sondern sie ist schon untergegangen. Und das, was uns umgibt, ist im Grunde das Nachglühen unseres Daseins. So wie wir Sterne am Himmel sehen, die vor Millionen Jahren verloschen sind.
Ist das nicht wahnsinnig frustrierend, sich lieber nicht zu äußern, weil man Angst vor der Reaktion hat?
Wenn man einen Offenen Brief unterschreibt, sind da immer auch Gedanken drin, die man nicht teilt. Ich habe zum Beispiel überhaupt keine Angst vor einem Atomkrieg. Der Grund, warum ich den Offenen Brief gegen Waffenlieferungen unterschrieben habe, war auf keinen Fall meine Angst vor einer Eskalation. Wenn da jemand auf den Knopf drücken will, dann drückt er auf den Knopf, da kann ich machen, was ich will. Das ist für mich nicht das Argument, keine Waffen zu liefern.
Was ist denn das Argument?
Das pazifistische Ideal. Ganz klar. Aber es wird einem nicht der Raum gegeben, sich in Debatten so zu äußern. Sie werden auch nicht so geführt, dass es wirklich darum geht, jemanden zu überzeugen oder sich überzeugen zu lassen. Es geht in diesen Debatten vor allem um Sieg und Niederlage. So ist jede Talkshow aufgebaut. Wie selten bis hin zu nie erlebt man da die Situation, in der jemand sagt: Weißt du was, du hast mich überzeugt. Das passiert einfach nicht, dabei müsste es doch das hehre Ziel sein. Ich bin auch gerne dazu bereit, überzeugt zu werden. Und ich habe oft versucht, mit Leuten, die mich angefeindet haben, ins Gespräch zu kommen.
Wie haben die reagiert?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass keiner dieser Menschen ein echtes Interesse daran hatte, mich zu treffen, sich mit mir zu beschäftigen, sich mit mir auseinanderzusetzen. Immer, wenn ich den Versuch unternommen habe, gesagt habe, lass uns doch mal treffen und uns miteinander unterhalten, austauschen, vielleicht überzeugst du mich ja oder ich kann dich überzeugen, dann hieß es immer: Nein, daran habe ich gar kein Interesse.
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