Interview

Holocaust-Forscherin Heim: „Die Ausmaße der Verfolgung waren nicht absehbar“

Eine große Dokumentensammlung über die Verfolgung der Juden in Europa wird nun in Berlin vorgestellt. Wir sprachen mit Projektleiterin Susanne Heim.

Ein gelber Davidstern mit der Aufschrift „Jude“, ähnlich dem, den Juden in Nazi-Deutschland tragen mussten, wird am Abend des jährlichen Holocaust-Gedenktages auf die Mauern der Jerusalemer Altstadt projiziert.
Ein gelber Davidstern mit der Aufschrift „Jude“, ähnlich dem, den Juden in Nazi-Deutschland tragen mussten, wird am Abend des jährlichen Holocaust-Gedenktages auf die Mauern der Jerusalemer Altstadt projiziert.AP

Durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine sind Ortsnamen wieder ins Bewusstsein getreten, die bislang vor allem mit der Verfolgung der Juden durch die Deutschen in Verbindung standen. Die Edition „Judenverfolgung 1933–1945“ ergibt nun ein Gesamtbild dieser in vielen europäischen Ländern stattgefundenen Verbrechen. Wir sprachen mit der Berliner Historikerin Susanne Heim, die einen der 16 Bände ediert hat.

Frau Heim, die 16 Bände umfassende Edition zur Verfolgung der Juden zwischen 1933 und 1945 in Europa ist seit einiger Zeit abgeschlossen, wird nun aber erstmals, verzögert durch die Corona-Pandemie, öffentlich im Rahmen einer Tagung vorgestellt. Was ist das Besondere an diesem Kompendium?

Es ist eine Edition, die alle Länder abdeckt, in denen der Holocaust stattgefunden hat. Damit sind die Verbündeten der Deutschen ebenso gemeint wie die Länder, die sich unter deutscher Herrschaft befanden. Nicht berücksichtigt sind die neutralen Staaten, die noch einmal ein ganz eigenes lohnendes Kapitel gewesen wären. Das Besondere besteht nicht zuletzt in der multiperspektivischen Sichtweise, das heißt, das Geschehen wird sowohl aus der Perspektive der Täter als auch der Opfer dokumentiert. Außerdem kommen die Haltungen unbeteiligter Dritter vor, beispielsweise in Gestalt von Gruppen, die die Verfolgung der Juden begrüßt haben oder solchen, die versucht haben, sich neutral zu verhalten. Falls man das denn überhaupt konnte. Es handelt sich also um eine Sammlung sehr unterschiedlicher Stimmen. Die 16 Bände ergeben ein Mosaik, einen Gesamtüberblick mit besonderem Augenmerk für den Verlauf der Judenverfolgung in den jeweiligen Ländern und Regionen.

Was meinen Sie mit Stimmen?

Das Quellenmaterial besteht aus Briefen, behördlichen Schreiben, Tagebuchaufzeichnungen, Notizen, Gedichten, Bittgesuchen, Gerichtsurteilen, Zeitungsartikeln und so weiter. Es handelt sich weitgehend um Schriftdokumente. Auf Fotos haben wir nicht zuletzt deshalb verzichtet, weil es hinsichtlich der Quellenbeurteilung noch einmal einen sehr großen Aufwand erfordert hätte.

Wie lange hat die Arbeit gedauert und was war für Sie das Überraschende im Verlauf der Recherchen?

Der erste Band ist bereits 2008 erschienen, der letzte 2021. Das ist eine sehr große Zeitspanne, und vor 2008 gab es noch einmal eine mehrjährige Vorbereitungszeit. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG hat die Arbeiten seit 2005 finanziert, es war das größte geisteswissenschaftliche Projekt der DFG. Es hat nicht nur länger gedauert als geplant, sondern ist auch doppelt so umfangreich geworden. Vorgesehen waren 150 Dokumente pro Band, nun sind es jeweils über 300. Insbesondere die Übersetzung aus über 20 Sprachen erwies sich als schwierig. Neben einer guten Lesbarkeit kam es vor allem auf Genauigkeit in der Terminologie an. Ziel der Edition ist es, nicht nur Materialien für die Forschung bereitzustellen, sondern auch ein breiteres Publikum zu erreichen. Eine Prämisse etwa für die Fußnoten war: Hier wird alles erklärt, was sich einem deutschen Abiturienten möglicherweise nicht gleich erschließt.

Die Quellensammlung weitet den Blick auf die Verfolgung der Juden in vielen europäischen Ländern, die unter deutschen Einfluss geraten waren. Gab es ein wiederkehrendes Muster in den Verfolgungspraktiken?

Wenn man sich den ersten Deutschlandband anschaut, in dem es um die Jahre 1933 bis 1937 geht, dann fällt auf, wie sich ganz allmählich der Handlungsspielraum verengt. Anfangs war nicht absehbar, welche Ausmaße die Verfolgung annehmen würde.

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Albert-Ludwigs-Universität
Zur Person
Susanne Heim, 1955 in Oldenburg/Holstein geboren, ist Historikern und Politikwissenschaftlerin. Sie hat an zahlreichen Publikationen und in Projekten zur Erforschung des Nationalsozialismus mitgewirkt, u.a. am Hamburger Institut für Sozialforschung. Seit 2005 ist sie Projektleiterin der Edition „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945“.

Weil den Methoden der Unterdrückung und Verfolgung bis 1937 noch der Anschein von Rechtsstaatlichkeit und geordneten Verfahrenspraktiken anhaftete?

Es gab Versuche der Gegenwehr. Die jüdischen Institutionen versuchten sich mit rechtsstaatlichen Mitteln zu wehren. Zum Teil durchaus mit Erfolg, etwa mit Beschwerden bei Behörden. Man kann daran ablesen, wie das NS-Regime ausprobierte, wie weit man gehen kann. Es wird abgewartet, wie und auf was die nichtjüdische Bevölkerung reagiert. Gelegentlich bekommen Juden vor Gericht Recht zugesprochen. Im Verlauf der Jahre wird der Widerspruch immer defensiver. Man kann das an einer Persönlichkeit wie dem Bankier und Politiker Max Warburg ablesen, der angesehen, gut vernetzt und einflussreich war und schließlich zunehmend marginalisiert wurde.

Der Blick in andere Länder, etwa nach Nord- und Westeuropa, nach Polen oder auf das Protektorat Böhmen und Mähren, macht insbesondere durch Vielfalt der ausgewerteten Quellen deutlich, wie systematisch der NS-Staat vorgegangen ist. Gibt es regionale Unterschiede?

Zu den wiederkehrenden Mustern in allen Ländern gehört, dass Juden zunächst einmal herausdefiniert wurden aus dem Rest der Bevölkerung. In einigen Ländern wurden sie gekennzeichnet, in anderen nicht. In einigen wurden sie in Ghettos untergebracht, in anderen nicht. Überall hingegen wurden Juden enteignet und es gab antijüdische Maßnahmen wie die Ausbürgerung. Von 1938 an beschleunigen sich die Prozesse. In Österreich etwa wurden binnen Wochen Maßnahmen umgesetzt, deren Einführung in Deutschland zuvor fünf Jahre gedauert hat. In die Sowjetunion sind die Deutschen einmarschiert und haben ohne weitere Vormaßnahmen begonnen, die Juden zu ermorden. Man hat sich in vielen Gebieten gar nicht erst damit aufgehalten, jüdische Verwaltungen zu installieren. Bei allen spezifischen Unterschieden und einer unterschiedlichen Bereitschaft zur Kollaboration der jeweiligen Bevölkerung lässt sich feststellen, dass es ein synchronisiertes Vorgehen gab, das sich zwischen Herbst 1941 und Frühjahr 1943 radikalisierte. In diesem Zeitraum sind die meisten Juden ermordet worden.

Durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine ist auf erschreckende Weise deutlich geworden, dass in der Phase der vermeintlichen historischen Aussöhnung zumindest in Deutschland die Ukraine als Ort besonders brutaler Gewaltherrschaft weitgehend vernachlässigt worden ist. Sehen Sie Ihre Ergebnisse jetzt in einem neuen Licht?

Es hat natürlich schon vor dem Krieg gegen die Ukraine Historiker gegeben, die sich auf diese Region fokussiert haben, etwa Timothy Snyder in seinem Buch „Bloodlands“. Auf jeden Fall kann man sagen, dass plötzlich viele Ortsnamen wieder ins Bewusstsein treten. Zu Butscha etwa gibt es ein Dokument in der Edition, aber vor Beginn des Krieges hätten selbst Mitarbeiter des Projektes, die nicht gerade damit befasst waren, nicht genau gewusst, in welchem Teil der Sowjetunion sich Butscha befand. Das hat sich nun auf erschütternde Weise verändert. Durch den Krieg in der Ukraine sind auch die von den Deutschen verursachten Massaker wieder nähergekommen. Und sie sind nicht mehr irgendwo im Osten geschehen, sondern lassen sich geopolitisch genau verorten.

Sie haben viele Jahre Ihres wissenschaftlichen Lebens der Erforschung der NS-Gewalt gewidmet. Wie stehen Sie zu der Debatte über die Singularität des Holocaust, die insbesondere von Kolonialismusforschern infrage gestellt wird?

Ich halte nichts davon, verschiedene Forschungsgebiete gegeneinander auszuspielen. Die Beschäftigung mit den Kolonialverbrechen ist zweifellos wichtig, und es ist gar keine Frage, dass es in diesem Bereich großen Nachholbedarf gibt. Aber das macht die Auseinandersetzung mit dem Holocaust nicht überflüssig. Ich denke nicht, dass die Holocaustforschung die Erforschung der Kolonialverbrechen verdrängen oder nicht zulassen würde. Die Zulässigkeit des Vergleichens steht ja auch gar nicht zur Debatte. Es gibt bestimmte Merkmale des Holocaust, die sich in der Form bisher nicht wiederholt haben. Gewiss gibt es auch Merkmale in den Kolonialverbrechen, die sehr besonders sind und einer weitergehenden Erforschung bedürfen. Ich kann nicht erkennen, warum es für das Interesse, genaue Forschung zu betreiben, einer Hierarchisierung der historischen Gewaltphänomene bedürfen sollte.

Mit der Dokumentenedition „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 (VEJ)“ wird erstmals eine thematisch umfassende Auswahl von bislang überwiegend unveröffentlichten Quellen zum Holocaust vorgelegt. Sie ist, herausgegeben vom Bundesarchiv, Institut für Zeitgeschichte und dem Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Freiburg, im Verlag De Gruyter Oldenbourg erschienen.

Die Abschlusstage finden vom 9.–11. Mai in Berlin statt. Eine Teilnahme ist per Livestream möglich.