Kolumne

Einsamkeit: In Berlin wird man so wenig beachtet wie nirgendwo sonst – und das ist gut so!

Endlich einsam: Gerade junge Menschen schätzen in Berlin die soziale Isolation. Eine Glosse von Anselm Neft.

Wie kam die Violine in den Mülleimer? Wir wissen es nicht. Nirgendwo kann man so anonym und einsam leben wie in Berlin.
Wie kam die Violine in den Mülleimer? Wir wissen es nicht. Nirgendwo kann man so anonym und einsam leben wie in Berlin.imago

Dies ist die neue Folge der humoristischen Kolumne „Finde den Fehler“ von Anselm Neft. Dieser Text ist eine Glosse und beansprucht daher keinen Wahrheitsgehalt.

Berlin ist Deutschlands einzig wahre Metropole und schon seit den Hugenotten und der „Weißen mit Schuss“ ein Labor für kulinarische und gesellschaftliche Experimente. Hier werden Trends gesetzt, die sich in anderen Teilen des Landes oft erst Jahre später durchsetzen. Vor allem wenn es um den westlichen Metatrend „Einsamkeit“ geht, hat Berlin europaweit die Nase vorn. Und zieht damit immer neue Menschen an. Vor allem junge Leute, die endlich ihre Ruhe wollen.

Bastian ist 22 und hatte nach vier Semestern in Tübingen die Nase voll. Er war es leid, ständig von Freunden, Bekannten, Verwandten und Mitstudenten umringt zu sein. „In der Fußgängerzone habe ich immer jemanden getroffen. Oder in einem der drei Cafés. Und abends natürlich in der Butterbrezel. So heißt unsere Disco.“

Als er es nicht mehr aushielt, bewarb sich der Biologiestudent um einen Studienplatz an der Humboldt und zog endlich in die Hauptstadt. Hier kennt er seit über einem Jahr nur „Hakan vom Späti“ und „Psycho-Ulf“, der ihn auf dem Gehsteig immer um „Jeld fürn Sterni“ bittet. In Berlin kann sich Bastian ganz auf sein Studium, das Internet und seine wachsende Depression konzentrieren.

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Maren Kaschner
Zum Autor
Anselm Neft, geboren 1973 bei Bonn, studierte abseitige Fächer, schrieb seine Magisterarbeit über zeitgenössischen Satanismus, verschliss Jobs vom Tellerwäscher bis zum Unternehmensberater und lebt heute als freier Autor und Schriftsteller in Hamburg. Dort betreibt er den Literaturpodcast „laxbrunch“ und schreibt Artikel und Bücher. Sein neuester Roman heißt „Späte Kinder“ und ist im Rowohlt-Verlag erschienen. Für die Berliner Zeitung schreibt er die humoristische Kolumne „Finde den Fehler“.

„Es ist alles so angenehm bedeutungslos“

Wie Bastian geht es vielen jungen Menschen, die ihre Kuhdörfer gegen die Hauptstadt vertauschen und ein neues, völlig abgekoppeltes Leben beginnen. Sie sitzen allein vor ihren Tablets, tippen in ihre Smartphones, joggen durch die kalten, breiten Straßen oder liegen das ganze Wochenende mit einem Stofftier im Bett.

Tine aus Bad Berleburg sitzt vor allem im Winter viel allein in ihrem WG-Zimmer. Ein Stofftier hat sie nicht. Dafür kifft sie ausgiebig. Ihre Mitbewohner:innen kennt die 20-Jährige kaum, die Zusammensetzung der Wohngemeinschaft ändert sich eh schneller, als sich ihr Bewusstsein wieder verengen kann. Wenn sie mal Lust auf Sex hat – was immer seltener vorkommt –, tindert sie, trifft einen „Kerle“ und ghostet ihn kurz darauf oder wird geghostet. „Es ist alles so angenehm bedeutungslos und austauschbar“, sagt die Lehramtsstudentin (Geschichte). „In Bad Berleburg hätte ich schon sieben Mal mit irgendwelchen Eltern Kaffee getrunken und über die Zukunft geredet.“

Skatklopfen, Musik hören und Bier trinken

Auch Rainer, ein gelernter Landschaftsgärtner aus Glücksstadt, fühlt sich in Berlin „wundervoll verloren“. Niemand, der ihn grüßt, niemand, der ihn auch nur anguckt und niemand, der wissen will, wie es ihm geht. Lediglich seine Mutter ruft jeden Sonntag an und stellt Fragen. Rainer geht dann oft nicht dran, da ihn soziale Kontakte zunehmend überfordern. Manchmal fantasiert er davon, tot zu sein. Seine Hoffnung: „In Berlin würde monatelang niemand meine Leiche finden und niemand um mich trauern. Ich finde das erleichternd.“

Doch es sind nicht nur die Zugezogenen, die den emotionalen Raum schätzen, den man sich in Berlin lässt. Auch Einheimische wie Conny und Olaf finden es super, dass sie jeden Abend in die Eckkneipe gehen können, ohne dass jemand auf die Frage „Alles fit im Schritt?“ auch eine Antwort will. Skatklopfen, Musik hören und Bier trinken kann man auch völlig ohne klebrige Gefühlsduselei. Manchmal finden sie schon den Spott der anderen Berliner lästig. „Da ist mir manchmal noch zu viel Herz drin“, sagt Conny, und Olaf ergänzt: „An solchen Abenden gehen wir schnell nach Hause, jeder in sein Zimmer.“

Einsamkeit in Berlin

In Berlin leben über 50 Prozent der Menschen allein. Kein Wunder, dass der Wohnraum knapp ist. Aber es lohnt sich. Zumindest sieht das der alleinstehende Spiros (53) so: „Wenn ich abends nach Hause komme und nichts höre als das streitende Paar in der Nachbarwohnung oder das Surren meines fast leeren Kühlschranks, dann ist es plötzlich da – dieses magische Berlingefühl.“ Auch Berta (82), Witwe in Charlottenburg, will das Alleinsein nicht mehr missen. Nach dem Tod ihres Mannes dachte sie erst, jetzt geht das Leben noch mal richtig los: Freundinnen, Freunde, Geliebte.

Bald aber hat sie gemerkt, dass sie das gar nicht mehr will. „Als junge Frau ging es mir um Zweisamkeit“, sagt die gebürtige Berlinerin. „Als ich gemerkt habe, wie bescheuert das ist, habe ich mich für Achtsamkeit interessiert.“ Doch mit Achtsamkeit ist Berta durch. Jetzt lobt sie sich ihre Einsamkeit und kann sich keinen besseren Platz auf der Welt vorstellen als Berlin.

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