Kolumne

Verhaltensfrage: Darf ich jammern?

Jammer weist auf Missstände hin und ist der Ursprung der Musik. Aber er drillt auch die Nerven und kann sich zum Terror der schlechten Laune auswachsen.

Die fruchtbringende Fähigkeit zum Jammern wird bereits in frühem Kindesalter erworben und bis zum Lebensende gefestigt.
Die fruchtbringende Fähigkeit zum Jammern wird bereits in frühem Kindesalter erworben und bis zum Lebensende gefestigt.imago stock&people

Das Wort Jammern hat einen onomatopoetischen, also lautmalerischen Ursprung. Das könnte darauf hindeuten, dass Menschen einander schon sehr lang das Jammern vorwerfen, indem sie einander dabei nachmachen oder gar parodieren. Vermutlich ist nicht der unmittelbare Schmerzenslaut gemeint, hervorgerufen durch einen Reflex nach einem Hieb zum Beispiel – auf gut Deutsch: Aua! –, sondern das Geräusch, das das folgende Wimmern („Mimimi...“) verursacht.

Diese gar nicht unbedingt lauten, aber dennoch durchdringenden Äußerungen leiten die Aufmerksamkeit auf den Geschädigten, auf dass sich vielleicht jemand finde, der ihn tröstet, verarztet, sich um ihn kümmert. Sobald dieser Mechanismus verstanden ist – wozu Menschen schon im zartesten Alter in der Lage zu sein scheinen –, liegt die Versuchung nahe, durch Verstärkung besagter Äußerungen bis hin zum Wehgeschrei den Kreis der potenziellen Trostspender zu erweitern – oder die Nerven von weniger zugänglichen Mitmenschen zum Zerreißen zu spannen, damit diese ein Mindestmaß an Interesse aufbringen – und sei es, dass sie einem wenigstens so viel Kontaktbereitschaft schenken, die nötig ist, um ein „Hör auf zu jammern!“ zu adressieren und klarzumachen, dass von ihnen nichts zu erwarten ist.

Bald schon entwickelten sich ritualisierte Klagegesänge, die helfen, das individuelle Leid in der Gemeinschaft zu teilen. Vermutlich ist das Jammern gar der Ursprung der Musik. Und wessen Herz würde der in Form gebrachte Jammer nicht erreichen, in den unzähligen Requiems, Kantaten, Trauermärschen, Passionskompositionen mit all den Zähren, Lamenti und Klagen, gern mehrstimmig und in schwellenden Chören?

Wer Jammerossi sagt, sagt etwas über sich selbst

Dennoch wird das Wort Jammern abwertend gebraucht. Die Zusammensetzung Jammerossi ist zum Beispiel diskriminierend, weil es eine Gruppe abgrenzt und ihr eine nervtötende Verhaltensweise als verallgemeinerndes Attribut anhängt. Dabei wird nicht nur der des Jammerns bezichtigte Mensch degradiert, sondern auch die Ursache als leicht verschmerzbar oder gar nichtig eingeordnet. Wer Jammerossi sagt, sagt also vor allem etwas über sich selbst, den Mangel an Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit, Kritik über Missstände von strukturell benachteiligten Menschen dankend anzunehmen, geschweige denn produktiv zu machen. Ein erster Schritt wäre es, sich für den Grund des Jammerns zu interessieren, eigene Nachforschungen anzustellen und den Jammernden dazu zu ermutigen, sich zu verbalisieren.

Wer jemanden des Jammerns bezichtigt, fordert ihn im selben Atemzug dazu auf, tapfer zu sein. Noch immer sind es vor allem Jungen, die so etwas zu hören bekommen und auf diese Weise dazu gebracht werden, die Ursache des Unwohlbefindens zu verdrängen, statt sie zu ergründen und dann vielleicht abzustellen. Sie sollen sich abstumpfen gegen das Missbehagen, den Schmerz und das Leid – und ihre Umwelt damit verschonen.

Andererseits gibt es auch den „Terror der schlechten Laune“. Ein ehemaliger Kollege – Hallo, Jens! – brachte die Montagmorgenstimmung in unserem Kollektiv mit dieser Wendung auf den Punkt. Das allgemeine Gejammer riss jäh ab, alle Ertappten richteten ihre Blicke auf den Rufer und zogen ihre Rückschlüsse auf dessen Gemütsverfassung. Der war aber mies drauf! Wobei in seinem Fall die onomatopoetischen Vokabeln Brummen, Murren und Knurren eher zu den Lautäußerungen passten, unter denen er sich erhob, die Tür zu seiner Schreibbutze hinter sich schloss und eine halbe Stunde später mit einer glühenden Eloge, einem sachdienlichen Verriss oder einer exquisiten Kolumne – auf jeden Fall aber mit einem Lächeln – wieder herauskam.