Das Lesepublikum verlässt sich darauf, dass ein Feuilletonist frei ist in seinen Entscheidungen. Dass er bei einem Schälchen Grüntee auf die Chaiselongue gelagert ungestört das Kultur- und Alltagsleben und sämtliche zeitgeistigen Debatten an sich vorüberziehen lässt, seinem Geist bei der Arbeit zuhört und erst dann mitschreibt, wenn die Gedankenfrüchte erntereif sind.
Aber dann trampelt irgendein Kollege durchs Bild und behauptet irgendwas zu dem gar nicht mehr so neuen Buch von Benjamin von Stuckrad-Barre, und vermutlich hat der Kollege mit seiner Ansicht einmal mehr unrecht, aber das kann man nicht wissen, wenn man das Buch nicht selbst gelesen hat, also weg mit dem Grünteeschälchen und losgeblättert.
Und dann kichert der Feuilletonist, und dann denkt er nach, dann stutzt er, dann ärgert er sich, dann schämt er sich ein bisschen, weil er sich wiedererkennt, und irgendwann reift der Gedanke: Das ist ein kluges Buch. Ist das lustig oder wenigstens erlaubt, wenn der Feuilletonist schreibt: „Das ist ein kluges Buch“?
Immerhin hat er sich, um in der Redaktionssitzung mit seinem Thema durchzukommen, nicht zu der Behauptung verstiegen, dass das Buch das klügste zur gegenwärtigen Krise sei. Denn, so lesen wir in „Noch wach?“ auf Seite 146 mit den vom Autor vorgenommenen Hervorhebungen, „das ist IN DER KULTUR auch immer so lustig, wenn da jemand behauptet, irgendein Buch sei DAS KLÜGSTE ZUR GEGENWÄRTIGEN KRISE – fußt doch diese Urteilsanmaßung auf der Behauptung, der dies Dekretierende habe nicht nur sämtliche Bücher ZUR GEGENWÄRTIGEN KRISE gelesen und sogar verstanden, nein, er sei obendrein gar intellektuell befähigt, deren jeweilige Klugheit exakt taxieren zu können, wofür er selbst natürlich noch klüger sein muss als das klügste Buch. Interessantes Selbstbild.“
Stuckrad-Barre hat den Macho in sich aufgescheucht
Kein dummer Gedanke. Aber auch ohne diesen Superlativ ist die Attestierung von Klugheit schwierig. Oder sogar „eklig“, wie Stuckrad-Barre schreibt. Warum? Man muss doch auch nicht stärker als ein Elefant sein, um beurteilen zu können, dass ein Elefant stark ist. Eine diesbezügliche Fehleinschätzung könnte gefährlich werden. Zumal ein Elefant auch noch schneller ist, als viele glauben, die sich selbst für sehr schnell halten. Aber Stuckrad-Barre hat recht, bei der Beurteilung von Klugheit setzt die Urteilsfähigkeit Klugheit voraus. Leider hilft einem diese Spitzfindigkeit wenig, wenn man sich einem geistig überlegenen Menschen gegenüber mal wieder dumm fühlt.
Kommen wir zur sexistischen Komponente. Offenbar hat Stuckrad-Barre den Macho in sich aufgescheucht, nachdem er diesen Satz eintippte: „Sophia war sehr, sehr, sehr klug.“ Aus welcher Berechtigung heraus hat hier ein Mann einer Frau eine Zensur in Sachen Klugheit zu erteilen? Die Anmaßung findet in dem Fall nicht nur auf der Mensch-zu-Mensch-Ebene statt, sondern auf dem zurzeit mit Shitstormladungen verminten Feld der Genderunterscheidung.
Man kann machen, was man will, bei der Wortverbindung „kluge Frau“ klingt eine implizierte Pointe mit. Sie ist aus der längst noch nicht überwundenen Zuschreibung erwachsen, dass Frauen viele Jahrhunderte von Bildung fern und eben für dümmer als Männer gehalten wurden. Diese Pointe greift nicht ganz so zuverlässig auch bei Migranten oder Ostlern.




