Kolumne

Friedrich Merz findet, Kreuzberg ist nicht Deutschland. Natürlich nicht!

Der CDU-Chef hat auf einem bayerischen Volksfest abfällig über Kreuzberg gesprochen. Zum Glück – alles andere würde den Ruf des Stadtteils endgültig ruinieren. Eine Kolumne.

CDU-Chef Friedrich Merz: mag Kreuzberg nicht.
CDU-Chef Friedrich Merz: mag Kreuzberg nicht.Odd Anderson/AFP

Zuerst hielt ich Gillamoos für einen Ort. Aber auf Wikipedia stand, „der Gillamoos“ sei ein Jahrmarkt, der älteste in Bayern. Aha, dachte ich, wieder etwas gelernt. Ich saß zu Hause auf meinem Balkon, unter mir lag Kreuzberg.

Der Stadtteil, in dem ich seit fast zwanzig Jahren lebe. Das Gegenteil von Gillamoos, dem Jahrmarkt, wenn ich Friedrich Merz richtig verstanden habe, den Parteivorsitzenden der CDU. Der hatte auf dem Fest eine Rede in einem Bierzelt gehalten. Über Twitter, oder wie es jetzt heißt: X, bekam ich immer wieder denselben kleinen Schnipsel aus dieser Rede zu sehen. Der Schnipsel regte viele der Menschen, die auf X ihre Meinung zu allem und jedem kundtun, sehr auf.

„Nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland“, hört man Merz darin sagen. Viele Menschen auf X verkündeten, dass sie Kreuzberger seien, oder sie erklärten sich solidarisch mit Kreuzberg. Dem vermeintlich angegriffenen, verhöhnten Stadtteil. Merz habe mal wieder bewiesen, dass er ein rechter Demagoge sei, weil er Kreuzberg aus Deutschland verbannen wolle, hieß es.

Berlin-Kreuzberg: Liebe von Friedrich Merz wäre das Ende

Hatte er das so gemeint? Für mich klang es eher nach: Kreuzberg ist nicht das stinknormale, durchschnittliche Deutschland. In Kreuzberg laufen die Dinge anders als im Rest der Republik. Aus der Sicht von Merz laufen sie natürlich falsch. Wie sollte es auch anders sein? Merz ist der Chef der CDU, er inszeniert sich gern als streng konservativ.

Natürlich findet er Kreuzberg, wo seit Jahrzehnten die Grünen jede Wahl gewinnen, obwohl sie hier besonders links und alternativ sind, furchtbar. Als in Kreuzberg westdeutsche Wehrdienstflüchtlinge und Langzeitstudenten reihenweise Altbauten besetzten, um günstig zu leben und die Häuser vor dem Abriss zu retten, war Merz bei der Bundeswehr auf dem Weg zum Reserveoffizier, schied als Fahnenjunker aus und wurde Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung. Er war schon als Gymnasiast in der Jungen Union. Über solche biografischen Details sollte man in Kreuzberg besser schweigen. Es gibt hier natürlich auch ein paar CDU-Politiker, aber die müssen hart im Nehmen sein.

Dass jemand wie Merz Kreuzberg nicht mag, wird man als Kreuzberger ja wohl noch erwarten dürfen! Schlimm wäre das Gegenteil. Friedrich Merz, der Kreuzberg lobt? Den Stadtteil, von dem ganz Berlin am 1. Mai wenigstens eine brennende Barrikade erwartet? Auch das hat zuletzt ja kaum noch geklappt. Liebe von Merz wäre das endgültige Ende eines Mythos.

Deutschland in Zahlen: Auch hier hat Merz einen Punkt

Ich lebe gern in Kreuzberg, auch wenn ich selbst oft das Gefühl habe, den Stadtteil nicht ganz zu begreifen. Die spezielle Kultur. Wahrscheinlich reichen zwei Jahrzehnte als Zugezogene aus Ost-Berlin dafür nicht. In letzter Zeit fällt es mir zum Beispiel schwer, die Leute zu verstehen, die wie ich in der Nähe vom Görlitzer Park wohnen, sich aber nicht mehr Sicherheitsmaßnahmen für unsere Gegend wünschen. Sondern weniger. Ich meide nicht nur den Park, sondern auch bestimmte Straßen inzwischen, um den Dealern und Süchtigen aus dem Weg zu gehen. Ich sehe Menschen hier viel öfter als früher auf der Straße Crack rauchen, auch direkt vor meiner Haustür, eine Droge, von der es heißt, dass sie besonders aggressiv mache.

Ich guckte noch ein paar Zahlen nach. Die meisten Deutschen leben in Gemeinden mit weniger als 50.000 Einwohnern. Kreuzberg hat 153.000. Abensberg, wo der Gillamoos gefeiert wird, hat 14.500. Auch zahlenmäßig hatte Merz einen Punkt. Dann legte ich das Handy weg und ging noch mal runter.

Auf der Straße vor meinem Haus standen acht E-Roller. Wirklich acht. Und gelbe Mülltonnen, die überquollen. Aus der Tanzschule gegenüber kam Musik. Vor dem italienischen Eiscafé, in dem auch ein Israeli arbeitet, saßen Männer aus dem türkischen Frisörladen. Irgendjemand brüllte über die Straße. Alles war wie immer. Merz hat schon recht, dachte ich. Zum Glück.

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