In Kreuzberg herrscht Regulierungswut, die Drogen werden härter. Der Mallorca-Imperialismus hat es nach Friedrichshain geschafft. In Mitte liegt ein Ort der nicht eingelösten Hoffnungen. Und in Pankow der äußerste Kreis der Hölle. Das sind die Berliner Kieze, in denen wir gerne unsere Abrissbirne schwingen würden.
Kreuzberger Bergmannstraße: Lebensgefährlicher Spieleteppich
In der südkoreanischen Netflix-Serie „Squid Game“ müssen Menschen brutale Aufgaben auf überdimensionierten Spielfeldern meistern. Wer’s nicht schafft, der stirbt. Die Erfolgsserie kann man in Berlin nachstellen auf der Kreuzberger Bergmannstraße, wo man so aufgeregt mit Verkehrsberuhigungskonzepten bei der rot-grünen Wählerschaft punkten wollte, dass das Ergebnis einem lebensgefährlichen Spieleteppich gleicht.

Einst eine charmante Einkaufsstraße mit trödeligem Flair und einem netten Angebot an Cafés, ist die Bergmannstraße jetzt ein Leuchtturm städteplanerischen Versagens. Unter dem Squid-Game-Motto „Alle gegen alle“ werden Fußgänger, Rad- und Autofahrer so gegeneinander ausgespielt, dass es überall nur Verlierer gibt.
Wer die Straße überqueren will, muss sich nachdrücklich versichern, nicht überfahren zu werden. Gleichzeitig werden Radfahrer abrupt zurück in den Autoverkehr gelenkt, und eine Vielzahl von Pollern, Markierungen und Erhebungen sorgen für zusätzlichen Thrill beim Passieren der Straße, die nur von Touristen noch bestaunt wird als bizarres Wirrwarr, als so eine Art Abenteuerspielplatz für Besoffene und motorisch Unterforderte, denen die Großstadt ansonsten nicht genug Aufregung bietet.

Doch damit nicht genug, denn auch der nahe gelegene Chamissoplatz, ein Gründerzeitschmuckstück mit einem Spielplatz und schönem Baumbestand, wurde dank verkehrstechnischer Regulierungswut komplett verunstaltet. Wer wissen möchte, wie man es schafft, einen Kiez zu ruinieren, ihm seinen Flair und seine Behaglichkeit zu nehmen, der sollte dem Bergmannkiez unbedingt einen Besuch abstatten. Marcus Weingärtner
Rumble in the Wrangel: Ist das mein Kiez, oder kann ich weg?
Er lief immer nur rückwärts. Morgens, wenn ich zur Arbeit fuhr. Abends, wenn ich wieder heimkam. Auch dazwischen, auch an den Wochenenden und Regentagen, eben immer, wenn ich ihn sah. So ist Kreuzberg, dachte ich, so isser nun mal, der Wrangelkiez, der bestimmte Menschen anzieht wie ein Magnet Eisenstaub. Gerade hier, im Bermudadreieck zwischen Spree, Skalitzer Straße und Görlitzer Park, kreuzen und verwirren sich dann die seltsamsten Lebensläufe. Und dieser Typ, zerzauster Bart, zerschlissene Schuhe, zerstreuter Blick, der lief einfach für sein Leben gern rückwärts.
Warum? Warum nicht? Rückwärtslaufen ist gelenkschonender als die klassische Vorwärtsvariante, weil man nur den Vorfuß belastet. Zudem ist der Energieverbrauch um ein Drittel höher, was das Rückwärtslaufen nicht nur für Kiezfreaks, sondern auch für Fitnesswahnsinnige interessant macht. Der Weltrekord im Rückwärtsmarathonlauf liegt übrigens bei 3 Stunden, 38 Minuten und 27 Sekunden. Rückwärts immer, vorwärts nimmer.
Vor ein paar Jahren noch schien es eine Etikette unter den Freaks im Wrangelkiez zu geben, eine Art inoffizielle Straßenverkehrsordnung, die, für alle anderen unsichtbar, ihre Wege regelte. Jeder hatte seine angestammte Ecke, einen vor Missgunst sicheren Platz zur freien Entfaltung der Persönlichkeitsspaltung, der nicht selten an ein Eigenrecht auf Rausch gekoppelt war. Dabei kamen sich die Freaks selten in die Quere. Sie störten allenfalls die Anwohner, wenn die Freakshow aus undurchsichtigen Gründen eskalierte, plötzlich laute Worte fielen und aus Motiven jenseits der Zurechnungsfähigkeit Flaschen flogen.
Das änderte sich in der Pandemiezeit, als nach und nach eine unheilvolle Dynamik einsetzte und der Rumble in the Wrangel in die nächste Runde ging.

Gentrifizierung, das war lange das größte Schreckgespenst, das hier um die Häuser zog, schlechter Verdienende und alteingesessene Ladenbetreiber vertrieb. Auf die Politik war da kaum Verlass, auf Bürgerinitiativen schon mehr. Und auch mal auf linke Aktivisten, die einige ihrer sehr seltenen Erfolge im und um den Wrangelkiez herum feierten. McDonald’s konnten sie nicht verhindern, aber immerhin den Google.
Heute ist der Wrangelkiez ein Ort, der sein Gleichgewicht verloren hat. Aus Trotz wollte man hier dreckig bleiben und wohnt jetzt in einer begehbaren Müllhalde. Mit weniger Tütchen, dafür mehr Ampullen. Und weil die Drogen härter und die Freaks freakiger geworden sind, ist das latente Unsicherheitsgefühl einer Angst gewichen, die unweigerlich zu dieser Frage führt: Ist das mein Kiez, oder kann ich weg?
Und der Rückwärtsfreak? Fand eines Tages den Vorwärtsgang wieder. Ging immer weiter. Ging einfach weg. Paul Linke
Kollwitzkiez: Frühstückst du noch, oder sitzt du schon in der Pop-up-Eatery?
So vier- bis sechsmal pro Jahr bin ich noch im Kollwitzkiez unterwegs, jenem hübschen Gründerzeitviertel in Prenzlauer Berg, das wie kaum ein anderer Ort der Stadt sinnbildlich für Berlins Gentrifizierungsprobleme steht.
Früher war ich öfter da, das war allerdings, bevor der „Spätzle-Anschlag“ auf das Denkmal von Namensgeberin Käthe Kollwitz deutschlandweit durch die Medien waberte und bevor der Wochenmarkt in jedem Reiseführer stand.

Heute kommen wir zum Beispiel her, wenn wir unserem Sohn mal einen innerstädtischen Spielplatz zeigen wollen – mit vielen Eltern, noch mehr Kindern und einer großen Zahl an Spielgeräten. Der Sohn will dann meistens schnell wieder zurück an den Stadtrand, da gibt es weniger Trubel, weniger Glasscherben, und er kann mehr für sich allein stromern und wuseln. Er kann rutschen, ohne dafür Schlange stehen zu müssen, und irgendein Fußballfeld ist auch immer frei. Ich fürchte, unser Sohn wird fürs Erste kein Prenzlauer-Berg-Fan.
Wir hegen jedoch den Hintergedanken, nach dem Spielplatzbesuch mal wieder fancy essen zu gehen, was am Stadtrand nun wirklich nicht möglich ist. Bis wir dem Kleinen allerdings die Fusion-Gerichte auf der Karte übersetzt und erklärt haben, drängelt die Bedienung schon mit Hinweis auf die draußen wartenden Gäste. Gemütlich ist anders.
Manchmal gehen der Mann und ich auch allein frühstücken rund um den Kollwitzplatz, so wie in den guten alten Studententagen. Leider bekommt man heute für das Budget von damals nur noch ein Tässchen Espresso. Man frühstückt hier eigentlich auch gar nicht mehr, nein, man sitzt in „Boozy Brunch Pop-ups“ oder in „Eaterys“ und bestellt Eggs Benedict. „With much love“, versteht sich, wobei die Umsetzung dann häufig maximal lieblos ist. Aber schön teuer, dann muss es doch gut sein, oder?
Ich glaube, ich höre mich an wie Wolfgang Thierse. Bevor mir noch ein Bart wächst, hilft nur eines: Wir reißen den ganzen Kiez ab und versuchen es noch mal von neuem. Diesmal dann aber wirklich: mit ganz viel Liebe. Anne Vorbringer
Majakowskiring: Das graue Spitzelparadies muss weichen
Der Stadtteil Pankow lässt sich mit dem Wort „Limbus“ umschreiben. Dieser theologische Begriff bezeichnet einen Ort als „äußersten Kreis der Hölle“. Und das trifft es: Pankow ist noch nicht wüstes Brandenburger Straßendorf, wo alle tätowiert sind und die Frauen lila Haare haben. Auch herrscht in Pankow keine himmlische Urbanität – wie zum Beispiel in Charlottenburg.
Man darf nicht so weit gehen, den ganzen Stadtteil abzureißen. Angesichts der drängenden Wohnungsnot in der Hauptstadt und der wirtschaftlichen Unsicherheit der bleiernen Wendejahre muss man sich fragen: Wohin mit den armen Menschen?

Nun gehört der Wandel zum menschlichen Leben. Auch der graue Stadtteil Pankow darf sich dem Fortschritt nicht verwehren. Wer nicht mit der Zeit geht, der geht eben mit der Zeit. Die größte „Baustelle“ in Pankow sind die schwierigen Einkaufsbedingungen. Denn eigentlich gibt es nur Dönerbuden, mittelmäßige Italiener und sehr viele Bestattungsunternehmen.
Eine schöne Fußgängerzone wie in Düsseldorf wäre für Pankow ein echter Imagegewinn. Architekten würden als Ort dafür den berühmten Majakowskiring wählen. Die ehemalige Gated Community der DDR mit ihren grauen SED-Bonzenvillen mit Wurfputz, die Maurerbrigaden einst verschlimmbesserten, müsste abgetragen werden.
Die schönen Bäume dürften bleiben. Sie laden zum Flanieren ein. Hinter schicken Glasfassaden könnten die Pankower bald nach Herzenslust shoppen: bei Pimkie, Orsay, Bijou Brigitte, Nanu-Nana und dem Schuhladen Tamaris. Vollendet würde das neue Quartier im frisch sanierten Park und Schloss Schönhausen nebenan. Mit Hüpfburg, Wasserrutsche und natürlich Foodtrucks. So und nicht anders geht moderne Stadtplanung. Jesko zu Dohna
Die Simon-Dach-Straße: Eine Schneise der Verwüstung
Sollte jemals eine Abrissbirne von Anfang bis Ende durch die Friedrichshainer Simon-Dach-Straße pflügen, könnte es danach im Grunde gar nicht schlimmer sein als vorher. Eigentlich hatte die Straße mit ihrem Kopfsteinpflaster, den hohen Eichen und den Berliner Altbauten mal großes Potenzial, zu einem idyllischen Kiez-Fleckchen zu werden.
Doch tagtäglich wird sie von jenen verunstaltet, die auch schon eine ganze Insel an sich gerissen haben: von biersaufenden Touristen aus Deutschland und England, mit komischerweise immer hochrot angelaufenen Köpfen und extrem lautgrölendem Organ. Der Mallorca-Imperialismus macht eben vor nichts und niemandem halt und hat es auch mitten nach Berlin geschafft.

In die Stadt, die sich sonst gerne als alternativ und anders als der Rest von Deutschland gibt – und dann auch noch nach Friedrichshain. Ausgerechnet in den Bezirk, der doch seit Jahren versucht, Kreuzberg den Titel als offiziell „coolsten“ Bezirk wegzunehmen. Deswegen bin ich der festen Überzeugung: Wäre Friedrichshain eine Person, so wäre ihr die Simon-Dach-Straße mit ihren Sauftiraden, Plastikwintergärten und charakterlosen Bars bestimmt peinlich.
Denn von dem Berliner Charme, dem Flair des „Arm, aber sexy“-Image ist hier nichts zu spüren. Hier lautet das Motto eher „billig, aber die Getränke kosten trotzdem viel“. Oder „Ballermann, aber halt ohne Strand“. Würde man diese Straße abreißen – Berliner, die hier nur auf Durchreise unterwegs sind, würden sie jedenfalls nicht vermissen. Und die Sauftouristen, nun ja, die haben dann ja immer noch Malle. Deswegen: Es kann nur besser werden. Franka Klaproth
Rund um den Weinbergspark: Ein Film, der nie gedreht wurde
Eigentlich gibt’s den Weinbergskiez ja gar nicht. Also den Kiez rund um den Weinbergspark gibt’s natürlich schon – bedauerlicherweise. Aber der Begriff „Weinbergskiez“ ist kaum verbreitet; wer ihn trotzdem nutzt, meint die Gegend zwischen Rosenthaler Tor und Kastanienallee, Veteranenstraße und Weinbergsweg, dieses traurige Fleckchen Berlin, das früher, also ganz früher mal „Rosenthaler Vorstadt“ hieß. Und fast so lange wie dieser Stadtteilname schon in Vergessenheit geraten ist, hat sich auch in diesem Teil von Mitte nichts verändert.

Noch immer gibt es versprengte Grafikdesigner, die ihre mit albernen Techno-Stickern zugeklebten Apple-Laptops im St. Oberholz aufklappen, um bei einem einsamen Latte Macchiato an Projekten zu arbeiten, für die sich niemand interessiert. Noch immer trotten 50-Jährige in Boyfriendjeans und Bomberjacken die Kastanienallee herunter, die sie selbst keck als „Castingallee“ bezeichnen, immer in der Hoffnung, entdeckt zu werden für einen Film, der gottseidank nie gedreht wird. Noch immer werden bei „Kauf Dich Glücklich“ Waffeln gebacken, in der Weinerei „gute Rote“ ausgeschenkt, im Circus Hostel die Etagenbetten aufgeschlagen.
