Kolumne „Verhaltensfrage“

Fake Freckles: Darf ich mir Sommersprossen schminken?

Ein harmloser Schönheitstrend zeigt Verletzungspotenzial und Ähnlichkeit zum Blackfacing. Darf man, wenn man lange genug darüber nachdenkt, überhaupt was?

Prominente mit Sommersprossen
Prominente mit Sommersprossenepa Scanpix Sweden

So cute! Künstliche Sommersprossen – wir Instagram-Influencer:innen sagen Fake Freckles – haben sich als Schminktrend verfestigt, die Kosmetikindustrie reagierte längst und bietet entsprechende Produkte an. Man kann sich die Sommersprossen aber auch mit einem herkömmlichen Lidschatten in entsprechender Farbe auftragen, sich verdünnte Schminke mit einer Zahnbürste ins Gesicht spritzen, Ansatzhaarspray oder Henna-Tuben verwenden. Bei letztgenannter Methode überstehen die Schönheitsflecken auch ein paar Gesichtswäschen, und mit Permanent-Make-up oder Tätowiernadel erzielt man noch nachhaltigere Ergebnisse.

Und hier kommt die Ungerechtigkeit der Natur ins Spiel, denn viele, die mit der entsprechenden Veranlagung auf die Welt gekommen sind, begreifen ihre Schönheitsflecken als Pigmentstörung und würden sie nichts lieber als loswerden. Um etwa in der viktorianischen Zeit als vornehm zu gelten und mit seinen Sommersprossen nicht den Anschein zu erwecken, dass man gezwungen ist, sich wie ein Bauer bei der Feldarbeit der Sonne auszusetzen, griff man zu hochgiftigen, zum Beispiel quecksilberhaltigen Bleich- oder Ätzsubstanzen. Bitte nicht nachmachen!

Aber das hier ist kein Schminktutorium, kommen wir nun zur ethischen Debatte: Was tun Menschen, die sich mit Eigenschaften anderer schmücken, denen diese als Makel gelten oder die sich aufgrund ihres natürlichen Tupfenschmucks gemobbt oder diskriminiert fühlen? Muss das nicht in Zeiten der Achtsamkeit als natural Appropriation (ungefähr: naturelle Aneignung) gewertet werden, mit der man das Empfinden von Mitmenschen verletzen könnte?

Verhaltensfrage: Darf ich Fehler zugeben?

Von Ulrich Seidler

08.04.2022

Fake Freckles gemahnen an eine andere Pigment- und Schminkdebatte, nämlich die ums Blackfacing. Und hier sollte inzwischen nicht mehr strittig sein, dass mit dem Dunkelschminken heller Haut eine rassistische Tradition reproduziert wird. Und dass man auch die durch die intensive Debatte um schwarze Schminke evozierten Verletzungen bei ihrer Anwendung nicht mehr ignorieren kann.

Klar: PoCs sind ungleich gründlicher, geduldiger und brutaler unterdrückt worden als Sommersprossen-Menschen. Und zum Glück sind die Zeiten, in denen Rothaarige und Sommersprossige als Hexen verfolgt wurden, vorbei. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel auch das freundlich gemeinte Othering, wenn etwa eine weiße Person in den Kinderwagen einer PoC-Mutter blickt und sich dazu bekennt, dass sie „solche“ Kinder besonders niedlich findet. Ähnlich peinlich kann es jemandem sein, der für seine Sommersprossen belobigt wird. Auch wenn die Komplimente lieb gemeint sind, können sie wunde Punkte treffen und das Gegenüber mit der Nase darauf stoßen, dass es zu „den anderen“ gehört. Wir hatten in einer anderen Verhaltensfrage schon ausgearbeitet, dass Komplimente für Äußerlichkeiten stets mit Vorsicht verteilt werden sollten.

So schön es ist, dass viele Menschen sich mit ihren Sommersprossen inzwischen abgefunden haben, sie gar mit Stolz tragen und sich über den aktuellen Trend freuen, so ungerecht dürften sie es finden, dass andere nun ihren Benefit einfach klauen und gegebenenfalls, also wenn Sommersprossen im Kurs wieder fallen sollten, loswerden. Gar nicht so cute, oder?

Und hier unten, wo vielleicht nicht mehr alle Leserinnen und Leser bei uns sind, ist ein Punkt erreicht, an dem diese Kolumne an ihr Strukturproblem stößt und der Verhaltenskritiker in die Krise gerät: Ein jedes Verhalten, das man nur lange genug im Lichte der stilkritischen oder moralischen Sonne wendet, entbirgt irgendwann seine Geschmack- oder Rücksichtslosigkeit und verliert seine Unschuld. Wo soll das hinführen? Mal sehen.