Was war das früher für ein draufgängerisches, unreflektiertes und, wie man von heute aus sagen muss, auch rücksichtsloses Verhalten! Kaum dass es wärmer wurde, zog man das T-Shirt über den (unbehelmten) Kopf und radelte mit freiem Oberkörper weiter. Der Fahrtwind leckte an der Haut und ließ den Schweiß verdunsten, bevor er aus den Poren trat. Die Sonne färbte den Brust- und Nackenhaarflaum weißblond und knusperte am nackten Rücken, bis er erst errötete, sich dann pellte und dann braun wurde. Sich die Sonne auf den Pelz scheinen, den Wind durch die Rippen blasen lassen – so warf man sich in die Arme der Welt und des Lebens. Wenn man keine Brüste hatte.
Inzwischen gibt es Sonnencreme und in Deutschland kein Gesetz mehr, das „oben ohne“ verbieten würde. Aber noch immer kommt es vor, dass Behörden unter Rückgriff auf Paragraf 118 des Ordnungswidrigkeitengesetzes und mit Verweis auf die „Belästigung der Allgemeinheit“, Menschen mit weiblichen Brüsten zum Bedecken ihrer Oberkörper verknacken.
Zugleich scheinen die Männer deutlich in der Unterzahl, die auch nur einen zögerlichen Augenblick lang darüber nachdenken würden, wie es auf die Allgemeinheit wirkt, wenn sie ihre mehr oder weniger nutzlosen Brustwarzen zur Schau stellen. Wobei „zur Schau stellen“ schon eine viel zu reflektierte Formulierung ist, die das Bewusstsein für ein Gegenüber impliziert. Manchem macht es in der Hitze sogar zu viel Mühe, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, dass es sich bei dieser bepelzten Beule in seinem unteren Blickfeld um seine eigene Wampe handelt.
Noch weniger Notiz nimmt er von seinem Bauarbeiter-Dekolleté, das sich mit dem Ansatz der Ritze zwischen den Pobacken über dem hinteren Hosenbund zeigt. Je wärmer es ist, desto egaler ist es ihm, was er von vorn oder von hinten für eine Figur macht, wenn er anderen in der Aussicht herumsteht. Er zeigt damit allerdings, dass er sich nicht nur selbst wurscht ist. Alle anderen sind es ihm auch.
Der debattierfreudige Journalist Malcom Ohanwe hat in einem Twitter-Thread ausgeführt, dass eine solche Unschuld der eigenen Wirkung gegenüber durchaus als Zumutung empfunden kann: „Oberkörperfreie Cis-Männer in nicht-queeren öffentlichen Räumen erinnern Frauen und/oder LGBTIQ* schmerzhaft daran, dass sie, ohne etwas dafür getan zu haben, viel, viel weniger Scham für ihre Nippel, Plauzen oder Achselhaare erleben.“ Also es geht nicht um eine Geschmacksverletzung, der im Übrigen in unserem Fall mit einem farbenfrohen Bikini-Oberteil auch nicht unbedingt abzuhelfen wäre. Bitte, kein Body-Shaming, auch nicht gegen in dieser Hinsicht unempfindlich scheinende Cis-Männer! Was eigentlich verletzt wird, ist das Gerechtigkeitsgefühl. Die einen dürfen aussehen wie sie wollen, und es ist ihnen egal! Und die anderen müssen befürchten, gebasht oder, vielleicht noch schlimmer, angemacht zu werden, sobald sie einen Zentimeter ihrer Haut enthüllen.


