Die junge Lehrerin aus Baden-Württemberg, die unlängst eine Petition gegen die Aufnahme von Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ als Abiturstoff auf den Weg gebracht hat, ist – wissentlich oder nicht – eine Vertreterin der sogenannten Giftampullentheorie. Diese besagt, so der Berliner Journalist und Autor Lothar Müller, dass aus dem N-Wort, wenn es ausgesprochen oder ausgeschrieben wird, das in ihm enthaltene rassistische Gift entweicht und in die Gesellschaft eindringt. Weil ihr das N-Wort in Koeppens vielstimmigem Roman gut 100 Mal begegnet ist, betrachtet die Pädagogin den Klassiker der deutschen Nachkriegsliteratur als unmittelbaren Angriff auf ihre Menschenwürde.
In seinem Beitrag für den Essayband „Canceln – ein notwendiger Streit“ stellt Müller der Giftampullentheorie die Position des afroamerikanischen Juristen Randall Kennedy gegenüber, dem zufolge das Wort „Nigger“ in jedes seriöse Lexikon gehöre. Es sei einfach zu wichtig, es zu ignorieren. „Gegen das Argument der Beschwerdeführer, ihre Gefühle seien verletzt worden“, führt Müller aus, „setzt er die Auffassung, Gefühle seien keine unveränderlichen Gegebenheiten, sondern beeinflussbar und veränderbar durch den sozialen Austausch und durch Kommunikation.“
Die Übung des zweiten Blicks
Und durch Selbstbefragung. In seinem anregenden Essay begibt Lothar Müller sich auf die Spuren seines durch jugendliche Lektüre erworbenen Afrikabildes und dessen erst beim Wiederlesen wahrgenommene rassistische Färbung. Das 1963 erschienene Buch „Weißer Mann auf heißen Pfaden“ von einem Autor namens Hermann Homann, das sich vordergründig gegen den transatlantischen Sklavenhandel richtet, dient Müller als lohnendes Beispiel für die Übung des zweiten Blicks. Das Eintauchen in die Entdeckungen und Widersprüche, die eine solche Lektüre hervorbringt, vermag nachhaltig die Kräfte eines magischen Denkens abzuwehren, dem die Vorstellung der Vergiftung durch Worte anzuhängen scheint. Natürlich lasse sich, schreibt Müller mit Blick auf die Cancel-Debatten, der Grundsatz, im Raum von Philologie und historischer Kritik müsse alles zitierbar sein, im Konsens beteiligter Akteure einschränken. „Aufheben lässt er sich schlechterdings nicht, ohne die Grundlagen von Philologie und Kritik zu gefährden.“
Im Untertitel dieser kleinen Anthologie ist von einem notwendigen Streit die Rede, den die Autorinnen und Autoren nicht ausfechten. Ihre Leidenschaft ist vielmehr auf dichte Beschreibungen gerichtet, um hinter die dummen Mechanismen einer kulturellen Kontroverse zu kommen, die zuletzt unter dem Stichwort Cancel Culture die Gemüter erhitzt hat. Aus den zwölf Essays lässt sich sehr viel lernen, etwa die Lektion, das eigene Unbehagen, das sich schnell gegen die kulturkämpferische Verve einstellt, mit der Bewährtes aus dem Regal geräumt werden soll, in literaturwissenschaftliche Neugier und das Bedürfnis umzuleiten, die Geschichten ganz anders zu erzählen.
Mit Phrasen am Lagerfeuer
Ganz ohne Emotion und Empörung geht es indes nicht. Die Literaturkritikerin Daniela Strigl lässt noch einmal den aberwitzigen Besetzungsstreit zur Übersetzung von Amanda Gormans Gedicht „The Hills We Climb“ Revue passieren, in dem die Auseinandersetzung über Herkunft und Geschlecht des zur dichterischen Übertragung bestellten Personals wichtiger schien als die angemessene Wiedergabe der lyrischen Qualität. Während Asal Dardan ohne Entlarvungsfuror kenntlich macht, dass es im Umgang mit dem fantastischen Werk von Michael Ende nicht getan ist, die fragwürdigen Aspekte der Jim-Knopf-Geschichten einem zeitgenössischen Weltbild der Autorsozialisation zuzuschreiben, führt Mithu Sanyal auf elegante Weise aus, dass man die Jugendbücher von Enid Blyton ohne späte Reuebekundungen und wider besseres Wissen lieben kann. Ohnehin scheint der Cancel-Furor auf die Ikonen vermeintlich unschuldiger Rezeption ausgerichtet zu sein. In apodiktischer Rechthaberei wurde zuletzt Winnetou, Atréju, Harry Potter, Pippi Langstrumpf und anderen Helden kindlicher Omnipotenzbedürfnisse der Prozess gemacht, ohne jemals die Verfahrensregeln offenzulegen. Wie bei den asiatischen Kampftechniken besteht die Kunst der Abwehr in dem Zusammenspiel von Körper und Bewegung.
Am weitesten scheint dabei Ijoma Mangold zu sein, für den die Debatte eigentlich gelaufen ist, seit sich Sammelbegriffe wie Cancel Culture und „woke“ gebildet haben. Sein Beitrag, der gewissermaßen als Ouvertüre der Beispiele einer gelassenen Wissensvermittlung dient, schließt mit dem Satz: „Man sollte sich nie im Kreise von Menschen blicken lassen, die sich um ein Phrasenvokabular wie um ein warmes Lagerfeuer versammeln.“ Die Gesellschaft, in der Mangold sich hier bewegt, hat Freude daran, das Lesen und den damit verbundenen Erkenntnisgewinn wichtiger zu nehmen als vorgefasste Meinungen und kleine Triumphe der Aufmerksamkeitsökonomie im großen Weltbildmikado.




