Porträt

Süßigkeiten in Serienform: Anna Winger wickelt sie ein, Netflix wirft sie ab

Mit „Deutschland 83“ und „Unorthodox“ landete Anna Winger internationale Erfolge. Vor dem Start ihrer neuen Serie trafen wir die Autorin in ihrem Büro in Kreuzberg.

Die Autorin und Showrunnerin Anna Winger in den Büroräumen ihrer Produktionsfirma Studio Airlift am Mehringdamm
Die Autorin und Showrunnerin Anna Winger in den Büroräumen ihrer Produktionsfirma Studio Airlift am MehringdammEmmanuele Contini

Nur gut 50 Meter ist sie lang, die Varian-Fry-Straße in Berlin, sie führt von der Alten Potsdamer Straße in Richtung Sony Center. Bei den meisten Menschen klingelt wahrscheinlich nichts, wenn sie diesen Namen hören. Das könnte sich bald ändern.

Vor einigen Jahren ging Anna Winger hier entlang, zusammen mit ihrem Vater, der aus New York zu Besuch war. Robert LeVine wusste genau, nach wem diese Straße benannt war, denn er kannte zwei Weggefährten Frys persönlich: Albert Hirschman, ein Professorenkollege von LeVine aus Harvard, und Lisa Fittko, mit der er in Chicago gegen den Vietnamkrieg protestiert hatte.

Die Wege von Fry, Fittko und Hirschman kreuzten sich 1940 in Marseille. Nach der Niederlage gegen die deutsche Wehrmacht mussten dort Flüchtlinge vor dem NS-Regime um ihr Leben fürchten, da die Vichy-Regierung dazu übergegangen war, die Menschen ihren Verfolgern auszuliefern. Als der amerikanische Journalist Varian Fry im Auftrag des sogenannten Emergency Rescue Committee in der Hafenstadt ankam, hatte er 3000 Dollar und eine Liste im Gepäck, mit den Namen von Menschen, die er retten solle. Walter Benjamin stand darauf, Heinrich Mann, Marc Chagall, Max Ernst und noch circa 200 andere, überwiegend Intellektuelle.

Der Flughafen Tempelhof inspirierte den Firmennamen

Doch nicht nur diese 200 setzten in Marseille ihre letzte Hoffnung in eine Überfahrt nach Amerika, sondern viele Tausende. Und so stand Varian Fry schon bald vor einem moralischen Dilemma. Sollte er die Augen vor dem Leid der vielen verschließen, oder versuchen zu helfen und damit seine eigentliche Mission gefährden?

Anna Winger war von der Geschichte fasziniert und arbeitete bereits an einem Drehbuch, als die amerikanische Schriftstellerin Julie Orringer 2019 einen Roman darüber veröffentlichte. Winger kaufte die Rechte und erdachte zusammen mit Daniel Hendler darauf basierend eine Miniserie: „Transatlantic“.

Als wir Anna Winger in ihrem Büro am Mehringdamm in Kreuzberg treffen, kommt sie gerade aus einer Krisensitzung. Die Berliner Premiere von „Transatlantic“ steht kurz bevor und fällt nun ausgerechnet auf den einen Tag, an dem Verdi und die EVG mit Streiks den Verkehr in Deutschland lahmlegen wollen. Für das Screening im Delphi-Filmplast werden Crew und Darsteller aus der ganzen Welt anreisen, darunter die amerikanischen Hauptdarsteller Cory Michael Smith und Gillian Jacobs.

Anna Winger bleibt cool, sie hat schon ganz anderes organisiert. Zum Beispiel den Seriendreh in Marseille mit 86 Drehtagen, von denen nur ein einziger wegen Corona gecancelt werden musste, obwohl sich bis zum Ende 80 Prozent des Teams zu irgendeinem Zeitpunkt infiziert hatten. „Irgendwer war immer in Quarantäne. Deshalb mussten wir jeden Tag neue Änderungen vornehmen. Wenn mich noch mal jemand fragt, was Showrunning ist... das war Showrunning“, erzählt sie.

Wir sprechen englisch, auch wenn Wingers Deutsch sehr gut ist, weil sie sich in ihrer Muttersprache wohler fühlt. Die Autorin lebt seit 20 Jahren in Berlin, zuerst lange am Savignyplatz, dort spielte auch ihr Roman „This Must Be the Place“, den sie 2008 veröffentlichte. Heute wohnt sie mit ihrer Familie im Fliegerviertel in Tempelhof, ihre ersten Büroräume mietete sie im ehemaligen Flughafengebäude.

Der Ort inspirierte den Firmenamen Studio Airlift, englisch für Luftbrücke. Schon Jahre vorher hatte Winger hier den Piloten Gail Halvorsen interviewt, auf dessen Initiative hin während der Luftbrücke Süßigkeiten für die Berliner Kinder abgeworfen wurden, was den Flugzeugen der Alliierten den Namen Rosinenbomber oder Candy Bomber einbrachte.

Als 2015 Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan und Pakistan im Flughafengebäude einquartiert wurden, halfen Winger und ihre Tochter. „Wir sprachen darüber, dass es noch nicht lange her ist, dass Menschen wie wir von hier fliehen mussten, von diesem Ort, an dem nun andere Schutz suchen.“

Anna Winger ist Jüdin. Über ihre Religion redet sie nicht gern, zumindest nicht im Zusammenhang mit ihrer Arbeit. „Ich bezeichne mich nicht als ,jüdische Autorin‘. Ich komme aus New York, da wäre es völlig absurd, so etwas zu sagen. Man würde ja auch nicht ‚christliche Autorin‘ sagen. Ich halte diese Art des Identitätsdenkens für übergriffig. Ich werde auch oft gefragt, warum ich mit so vielen People of Color arbeite. In Deutschland, einem Land, das sich oft als Monokultur betrachtet, auch wenn das so nicht stimmt, mag das eine Frage sein, die naheliegend erscheint. Aber das ändert sich seit einigen Jahren zum Glück. Menschen, die nicht weiß und nicht christlich sind, ständig als ‚anders‘ zu identifizieren, nervt mich.“

Acht Emmy-Nominierungen für „Unorthodox“

Die Fragen kamen besonders häufig, nachdem Anna Winger mit ihrer Netflix-Serie „Unorthodox“ große internationale Erfolge gefeiert hatte. Acht Emmy-Nominierungen und die Auszeichnung für Maria Schrader als beste Regisseurin konnte die vierteilige Erzählung verzeichnen, die lose auf der Lebensgeschichte der Schriftstellerin Deborah Feldman basierte, die mit Anfang 20 aus einer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaft in New York mit ihrem Sohn nach Berlin geflohen war.

Auch Wingers erste Serie als Showrunnerin wurde international verkauft, was 2015, als die erste Staffel der „Deutschland“-Reihe erschien, noch eine absolute Seltenheit war. Die Idee zu der Geschichte um einen DDR-Grenzsoldaten, der als Spion zur Bundeswehr geschickt wird, entwickelte sie aus dem Wunsch heraus, ihre Berliner Heimat besser zu verstehen, gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Fernsehproduzenten Jörg Winger.

Dass Autoren auch produzieren, ist in den USA und Skandinavien schon lange Usus. In Deutschland hat es mal wieder länger gedauert, bis die Botschaft angekommen ist, dass es die Qualität einer Produktion in der Regel maßgeblich steigert, wenn die Kreativen auch Entscheidungsmacht über die Ausführung haben.

Zwar gibt es kein kollaborativeres Medium als Film, außer vielleicht Videospiele, doch wie wichtig es ist, dass zumindest ein Mensch von der Idee bis zum Schnitt für eine Vision einsteht, wird jeder Drehbuchautor ohne Mitspracherechte bei der Umsetzung bestätigen können, der seine Geschichte am Ende nicht mehr wiedererkannt hat.

„Menschen geben Macht, gerade, wenn sie viel davon besitzen, nicht freiwillig ab“, stellt Winger fest, spürt allerdings einen deutlichen Fortschritt, auch in Hinsicht auf die Frauenquote in der Branche. „Ich mache das erst seit acht oder neun Jahren. Aber in diesen Jahren hat sich vieles verändert.“

Um den Kampf gegen Machtlosigkeit geht es auch in „Transatlantic“. Die Fragen, ob und wie man helfen kann, werden vor der Kulisse des glitzernden Mittelmeers verhandelt, drei Tage nach Drehbeginn griff Russland die Ukraine an. „Die meisten Menschen glauben, dass sie nichts tun können, also tun sie nichts“, sagt Gillian Jacobs in der ersten Folge; sie spielt die reiche Amerikanerin Mary Jayne Gold, die Varian Fry auch noch unterstützte, als der Geldhahn in Chicago längst zugedreht war. „Es geht hier um gewöhnliche Menschen, die etwas Außergewöhnliches tun“, erklärt Winger. „Und als sie merken, dass sie etwas erreichen, machen sie einfach weiter.“

Lucas Englander als Albert Hirschman, Cory Michael Smith als Varian Fry und Gillian Jacobs als Mary Jayne Gold (v.l.) in „Transatlantic“
Lucas Englander als Albert Hirschman, Cory Michael Smith als Varian Fry und Gillian Jacobs als Mary Jayne Gold (v.l.) in „Transatlantic“Anika Molnar/Netflix

Gemeinsam organisieren die Verbündeten einen Ort der Zuflucht in einer Villa auf dem Land, wo die Verfolgten ihrer Angst gemeinsam Feste, Kunst und Liebe entgegensetzen. „Wir neigen dazu, zu vergessen, dass Menschen in dunklen Zeiten immer noch Menschen waren, die echte Leben geführt haben, inklusive Kunst und Romanzen. Weil ihnen das half, zu überleben“, so die Autorin.

Ihre Figuren sind von Hoffnung und Leidenschaft getrieben, die Ausstattung fordert den Faschismus mit Expressionismus heraus. Fry, Gold und Hirschman, der von dem in Berlin lebenden Schauspieler Lucas Englander gespielt wird, meistern ihre bedrückenden Herausforderungen fast in Screwball-Manier. So sieht man Geschichten über den Zweiten Weltkrieg nur selten, besonders aus Deutschland.

Am Ende bleibt die Frage: Warum helfen manche Menschen und andere nicht? „Ich glaube, letztlich ist alles, was jemand tut, immer auch etwas egoistisch“, sagt die Autorin. Was mich aber viel mehr interessiert: Warum haben sich die Schicksale dieser Menschen gekreuzt? Meine Antwort war: Alle sind in Richtung Freiheit gerannt. Die Flüchtlinge in unserer Geschichte suchten politische Freiheit in Amerika, während die amerikanischen Figuren ihre eigene private Freiheit in Frankreich lebten.“

Alexa Karolinski, mit der Anna Winger die Drehbücher zu „Unorthodox“ schrieb, spielt in „Transatlantic“ Hannah Arendt, die ebenfalls vom Emergency Rescue Committee in die USA gebracht wurde. 
Alexa Karolinski, mit der Anna Winger die Drehbücher zu „Unorthodox“ schrieb, spielt in „Transatlantic“ Hannah Arendt, die ebenfalls vom Emergency Rescue Committee in die USA gebracht wurde.

Für Varian Fry musste diese Freiheit reichen, Ehre wurde ihm zu Lebzeiten jedenfalls nicht mehr zuteil. Das Emergency Rescue Committee rettete zwar letztendlich über 2000 Menschen das Leben, größtenteils illegal, auf dem Seeweg oder mit heimlichen Trecks über die Pyrenäen nach Spanien, angeleitet von Lisa Fittko – doch Fry dafür in Amerika als Helden zu feiern, einen Mann, der gegen starke Widerstände aus dem eigenen Land Flüchtlinge dorthin schleuste, hätte auch bedeutet, das durchweg positive Bild der Vereinigten Staaten im Zweiten Weltkrieg zu trüben.

In einer Szene erzählt ein Komplize des Journalisten von einem Witz in Bezug auf die Kindertransporte, mit dem jüngst eine Amerikanerin die gehobene Gesellschaft auf einer Party erheitert hatte: „100 jüdische Kinder? Daraus werden doch nur 100 hässliche Erwachsene!“ Eine Zäsur, wie Winger sie sparsam, aber dafür umso wirkungsvoller einsetzt.

„Wenn man über die Vergangenheit schreibt, schreibt man immer auch über die Gegenwart“, sagt die Autorin, und sie tut das mit einer vermeintlichen Leichtigkeit, die dem breiten Publikum ein Unbehagen über bestehende Verhältnisse fast unbemerkt ins Bewusstsein leitet. Netflix hat dieses Talent an sich gebunden, mit einem Exklusivvertrag über mehrere Jahre. Die nächste Serie von Studio Airlift spielt in der englischen Provinz. Vielleicht wird man auch ihr anmerken, so wie bisher allen Produktionen von Anna Winger, dass sie in Berlin geschrieben wurde.

„Transatlantic“ erscheint am 7. April bei Netflix