Kunstwerk

Carl Hegemann: „Wer weiß, was wir da eingebuddelt haben?“

Der Dramaturg und Philosoph Carl Hegemann hat ein Kunstwerk geschaffen, das Schönheit und Wirklichkeit changieren lässt. Das passt zum Jahreswechsel.

Was ist auf dem Foto zu lesen? 
Was ist auf dem Foto zu lesen? Carl Hegemann Four Sides of Being, 2022 Courtesy Carl Hegemann und Galerie Nagel Draxler Produced by F.A.I.R.E.

Im Herbst wurde im Park eines südfranzösischen Hotels die Skulptur des Dramaturgen und Philosophen Carl Hegemann eingegraben. Es handelt sich um einen doppeldeutigen Schriftzug, der weite Assoziationsräume aufmacht. Wenn man die englischen Worte für Wirklichkeit und Schönheit in Großbuchstaben schreibt, also BEAUTY und REALITY, und nur die obere Hälfte der Worte sichtbar macht, sind die Begriffe nicht mehr auseinanderzuhalten. Wir haben den Künstler gebeten, ein wenig Hintergrund und Interpretationshilfe zu leisten und mit uns gemeinsam dieses changierende Werk in Bezug auf den Jahreswechsel zu betrachten.

Herr Hegemann, bitte erzählen Sie uns, wie Sie auf das Phänomen gestoßen sind.

Das hat der Kulturwissenschaftler und Poptheoretiker Diedrich Diederichsen entdeckt, er hat mir auch gezeigt, wie. Er hat in seinem riesigen Plattenschrank auf dem schmalen Coverrücken eines Albums das Wort „Reality“ gelesen, aber als er es herauszog, war es Ornette Colemans „Beauty Is A Rare Thing“. Das ist 20 Jahre her. Ich war elektrisiert und beschäftige mich seitdem immer wieder damit. Für mich ist es die kürzeste Zusammenfassung dessen, woran ich mein ganzes Leben gearbeitet habe.

Sie verwenden das Beispiel immer wieder bei Vorträgen, wofür?

Ja, das ist das Erste, was ich in meinen Seminaren immer gemacht habe, die halbe Buchstabenfolge an die Tafel geschrieben und die Studentinnen lesen lassen. Dann konnte ich mir gleich ein Bild davon machen, wer mehr auf Realität und wer mehr auf Schönheit steht. Das ist in gewisser Weise auch ein Intelligenztest, aus dem ich meine Schlüsse ziehe. Ich sage Ihnen nicht, wie.

Konnten Sie statistische Ergebnisse festhalten?

Ich konnte feststellen, dass es je nach Wetterlage und je nach den Leuten, die da waren, schwankte. Bei der Ausstellungseröffnung gab es eine sichere Mehrheit für Beauty. Aber das waren ja auch alles Kunstsammler und Schöngeister. Außerdem waren wir in Frankreich. Aber wir haben schon versucht, die Buchstaben nur so weit einzugraben, dass man beide Worte zugleich liest. Das tut fast weh. Eine sinnliche Dialektik.

Was sind die inhaltlichen Komponenten?

Es geht um nicht weniger als das Verhältnis von Erkenntnistheorie und Ästhetik. Wie ist es möglich, dass es Schönheit gibt, obwohl die Menschen doch darauf angewiesen sind, dass nichts vollkommen ist. Und da hat diese Installation natürlich eine Antwort, die Schönheit realisiert sich nur, wenn sie schon halb verschwunden ist.

Man weiß nicht, ob sie gerade versinkt oder gerade auftaucht.

Das ist mir in Frankreich erst so richtig aufgegangen, vorher hatte ich das Werk schon einmal als Wasserplastik auf der Hamburger Außenalster schwimmen lassen. In Frankreich kommt der Aspekt hinzu, dass die Skulptur, wie man bei alten Menschen sagt, „schon halb unter der Erde ist“. Die Skulptur beschreibt den Weg, den Kleist seinem Prinzen von Homburg in den Mund gelegt hat: „Das Leben nennt der Derwisch eine Reise/ Und eine kurze. Freilich! Von zwei Spannen/ Diesseits der Erde nach zwei Spannen drunter.“ Das wird erst so richtig klar, wenn man die Buchstaben auf der Wiese so halb eingesunken sieht. Wir haben vorher ein richtiges acht Meter langes Grab geschaufelt, wohinein das Gebilde gelassen wurde. Es war auch eine Beerdigung. Deswegen heißt das Ding auch „Four Sides Of Being“ – zwei Seiten sind Schönheit und Wirklichkeit, die anderen beiden Seiten sind über und unter der Erde. Ich hatte mir eigentlich eine etwas andere Farbe gedacht, eine, die mehr an menschliche Haut erinnert, also gleichzeitig an Lebendigkeit und Vergänglichkeit.

Carl Hegemann bei der Einweihung des Kunstwerks im Garten des Hotels
Carl Hegemann bei der Einweihung des Kunstwerks im Garten des HotelsCarl Hegemann Four Sides of Being, 2022 Courtesy Carl Hegemann und Galerie Nagel Draxler Produced by F.A.I.R.E.

Jetzt frage ich mich, warum mich das Kunstwerk so hoffnungsvoll stimmt.

Ihr Gefühl trügt Sie nicht. Es ist beides: Wenn man Beauty liest, scheint das Wort emporzusteigen wie Aphrodite aus dem Schaum des Meeres. Wenn man Reality liest, denkt man natürlich, dass das Wort versinkt. So wie die Wirklichkeit eben untergeht, ob nun wegen der schmelzenden Polkappen oder weil sich alle Bezugssysteme auflösen, weil sich nichts Wahres mehr sagen lässt und die Wirklichkeit in Fake News untergeht. Das ist eigentlich nichts Neues, die Realität war schon immer eine wacklige Angelegenheit. Spätestens seit Gott tot ist. Ich spreche das Nietzsche-Wort aus, denke aber auch an den Gott, der am Kreuz gestorben ist. Und wenn eine Religion einen gestorbenen Gott anbetet, dann ist es zu Ende mit allen Wahrheits- und Realitätsgarantien.

Das sind auch keine Garantien, die man von Religionen erwarten darf. Nun ist erst einmal Weihnachten.

Die größere Feier ist das Osterwunder, da geht es auch um den Aufstieg in die Herrlichkeit Gottes. Für mich ist das Glück an diesem Kunstwerk, dass es diese tiefe ambivalente Erfahrung ermöglicht – in einem nachgerade witzigen Zufallsphänomen. Das Ganze hat seine rein zufällige Bewandtnis, das hat sich kein Mensch ausgedacht, dass man das einfach findet, dass mir das einfach so zufällt! Dafür bin ich sehr dankbar, ich weiß gar nicht so recht, wem.

Diedrich Diederichsen?

Ja, natürlich. Ich habe mit ihm darüber gesprochen und ihm angeboten, dass wir uns seine Entdeckung beide zu eigen machen. Aber er als Kunstfachmann sagte mir, dass ich in dem Fall eindeutig der Urheber bin. Der Entdecker habe das Kunstwerk nicht geschaffen, sondern der, der aus dieser Entdeckung ein Kunstwerk macht. Genau genommen hat es allerdings exakt nach meinen Plänen und in ständigem wochenlangen Austausch, die Schweiß- und Kunstwerkstatt in Marseille realisiert – oder beautysiert –, die Fabrique Artisanale et Imaginative des Réalisations Éclectiques, kurz F.A.I.R.E. Die Zusammenarbeit mit diesen wunderbaren und hoch motivierten Fachleuten hat mich total begeistert.

Herr Hegemann, ich muss Sie das als Journalist fragen. Welches Wort wurde denn nun eingegraben? BEAUTY oder REALITY?

Diese Frage ist so goldig. Ich darf natürlich nicht darauf antworten. Aber ich mache es dennoch: Wir wollten keiner Seite den Vorzug geben und haben das Problem so gelöst, dass die Buchstaben unterirdisch organisch versanden. Außerdem mussten wir sie ja irgendwie an einem T-Träger festmachen. Das Ding wiegt sechs Tonnen!

Für Schönheit ein bisschen schwer, für Wirklichkeit geradezu luftig.

Sie werden mich nicht dazu bringen, die Frage zu entscheiden. Aber hören Sie nicht auf zu fragen!

Das Kunstwerk steht im Garten eines schönen Hotels der gehobenen Preisklasse zwischen Zypressen und Olivenbäumen. Man müsste es von der Sunset-Suite aus gut sehen können, da kostet die Nacht inklusive einer Flasche Champagner allerdings 1000 Euro.

Wenn überhaupt, sieht man es da nur von hinten, was neue Rätsel generiert. Ich bin nach wie vor Theaterdramaturg und kann mit Luxus nicht umgehen, deshalb achte ich darauf, dass die bildende Kunst für mich eine Nebenbeschäftigung bleibt. Aber ich konnte da eine Woche Urlaub in Begleitung machen, ja. Allerdings war es dann doch ziemlich anstrengend, weil wir die Ausstellung vorbereitet haben. Schon die Erdarbeiten ... Ich hatte auch den Ehrgeiz, dass es perfekt wird. Mir gefällt die Größe, auch wenn es gemessen am ZWEIFEL von Lars Ø Ramberg auf dem Dach des Palastes der Republik doch ein bisschen kleinlich gedacht ist. Das war mit acht mal 40 Metern um ein Vielfaches größer. Dafür passt unsere Skulptur aber so gut in das Parkgelände vor dem Hotel, dass man denkt, es habe schon immer dort gestanden. Und die Hälfte befindet sich unter der Erde. Ach, was sage ich, wer weiß, was wir da alles eingebuddelt haben.

Haben Sie noch andere Wortpaare gefunden, die eine ähnliche Übereinstimmung aufweisen?

Ich bin auf der Suche, bisher erfolglos. Das scheint wirklich singulär zu sein. Wenn Ihre Leserschaft noch Beispiele hat, die ich ausschlachten könnte, gern her damit. Ein besonders aufmerksamer Franzose hat noch etwas entdeckt: Wenn man in den mittleren Buchstaben zwei Punkte malt, landet man beim Fußball, dann könnte es RFA:ITY heißen, was aussieht wie die französische Abkürzung für Deutschland gegen Italien.