Es bedarf schon einiger literarischer Leidenschaft und einer daraus resultierenden Loyalität, um nicht irgendwann an den verehrten Dichtern irre zu werden. Zur Poesie und Gewitztheit kommen nicht selten Rechthaberei- und Lautsprechergebaren hinzu, Ausdrucksformen, aus denen heraus es immerzu posaunt: „Kenn ich, weiß ich, war ich schon“, nur schöner formuliert. Walser, Biermann, Grass – Sie wissen schon.
Dem Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler und Gelegenheitsmenschen Thomas Kapielski ist es unterdessen gelungen, die schlimmsten Befürchtungen derart in seine Arbeiten einzupreisen, dass sie als Warnung und aufdringlich draufgepapptes Gütesiegel zurückblinzeln. Schwadronieren als Kunst, die bei aller Kennerschaft und Ambition doch auch auf einen gehobenen, feingroben Unernst verweist, mindestens aber auf die Möglichkeit, es ganz anders zu sehen.
Kippi, ein Angeber und Schnösel
„Lebendmasse. Acht längere Unterredungen“ heißt eine als Interviewband getarnte Autobiografie, in der der inzwischen 72-jährige Kapielski einem gut informierten Gegenüber, das er selbst sein könnte, aus seinem Leben berichtet. Und so erhalten geneigte Leser, deren Zahl Kapielski auf 3000 schätzt, einen nachhaltigen Eindruck von der Sumpfblüte eines Berliner Kunstmilieus in den 70er-, 80er- und 90er-Jahren, in dem Kapielski dabei war und manchmal sogar mittendrin.
Mit ein wenig zeitgenössisch-kulturhistorischer Neugier könnte man „Lebendmasse“ also als Schlüsselroman lesen, in dem der Künstler Martin Kippenberger ein bisschen so vorkommt, wie er wirklich war. Anlässlich eines gemeinsamen Projektes beim Berliner Verlag Merve schildert Kapielski eine Begebenheit mit ihm so: „Kippenberger wurde damals von vielen als Angeber und Schnösel empfunden; später haben Punks ihn mal ziemlich verdroschen, und er hat gleich eine Aktion draus gemacht, Dialog mit der Jugend hieß sie, und auf einem Plakat dazu hat er sich dann furchtbar verbeult mit Kopfverband im Krankenhausbett gezeigt. Das war eine gute Reaktion und Wendung, finde ich, das konnte er. In seinen Sachen und Titeln steckt immer so ein Dreh mit drin, ein mehrfacher. Er war schon der Beste damals, ziemlich treffsicher und trefflich.“

Kapielski gibt Auskunft, schweift ab und verheddert sich. Die Erinnerung ist kein guter Chronist, und so ist „Lebendmasse“ hinsichtlich der Genauigkeit zu misstrauen. Mitunter staunt der Autor selbst darüber, was er andernorts schon einmal über eine Angelegenheit geschrieben hat, die sich ihm inzwischen ganz anders darstellt. Dann ist da dieser mitreißende Witz, das abgeklärte Erstaunen über den eigenen Werdegang und die Begeisterung über eine längst verflogene subkulturelle Lust, die Kunst des Augenblicks zu feiern.
„Lebendmasse“ bietet hinreichend Gelegenheit, anarchischer Kunst in der Phase ihres Entstehens zuzusehen. Nichts war zu hässlich, um nicht auch wahr zu sein. Und ein besonderes alltagsethnografisches Gespür hält sich Kapielski noch immer zugute. So fällt ihm auf, dass Frauen so bis vierzig aus mehr intellektuellen Milieus jetzt Vokale, vor allem das O oder den Umlaut Ö, mit einem A verschleifen, wenn ein R folgt. „Die sagen nicht Wort, sondern Woat. Oat sagen sie, nicht Ort, und statt Körper sagen die Köapa, Köapabewußtsein.“ Und warum? Keine Ahnung.
Heiner Müller, ein Einfach-nur-so-Rumsitzer
Vorübergehend lebte Kapielski zusammen mit Peter Gente und Heidi Paris, den kongenialen Merve-Verlegern, in einer Wohngemeinschaft, in der auch Heiner Müller verkehrte. Wie wenig Kapielskis Erinnerungen zur Heldenverehrung taugen, belegt eine Passage über den Dramatiker. „Irgendwoher mußte sein bisweilen frappanter, sehr luzider Tiefsinn ja kommen, vermutlich aus der Kreuzung von Dusel, Witzgedächtnis und Belesenheit, und er war ein bekennender Einfach-nur-so-Rumsitzer, die haben Beobachtungsgabe, die sehen gut. Seine Stücke finde ich nicht besonders, mit Theater kann ich nichts anfangen, aber er hat famose Interviews gegeben und Essays geschrieben.“
So ließe sich seitenlang weiter zitieren, „Lebendmasse“ ist ein gleichermaßen geschwätziges wie zurückhaltendes Buch, das man sich gut dosiert zuführen sollte. Andernfalls entgeht einem das Gespür für Kapielskis Wortwitz, der manchmal in seiner ungebremsten Lust auf Kalauer aufscheint, sich darin aber keineswegs erschöpft. Sprache ist dem Autor, der zahlreiche Bücher geschrieben hat, aber auch eine Kunstprofessur innehatte, laut eigenem Bekunden wichtig. „Meine Texte“, heißt es weit hinten im Buch, „sind mehr von Ästhetik als von Botschaften getragen. Egal was ich sage, es muß bestmöglich gesagt werden.“
Die acht längeren Unterredungen schwanken zwischen den Bekenntnissen eines alten, weißen Mannes und einer Erzählung von Charles Bukowski – ohne Sex. (Tatsächlich hat Kapielski im Neukölln der frühen Jahre auch einmal als Postbote gearbeitet und dabei viel Bier getrunken.) Die acht Kapitel erwecken zunächst den Anschein, chronologisch geordnet zu sein, tatsächlich aber geht es munter hin und her. Der namentlich ungenannte Interviewer simuliert Spannung, oft aber nutzt Kapielski eine Frage zu weiteren Abschweifungen. Eine gleich zu Beginn angespielte Episode, der zufolge er es war, der den französischen Soziologen Jean Baudrillard mit dem Phänomen der Berliner Peep-Show vertraut gemacht hat, kommt erst sehr viel später zur Darstellung. Keine Lust auf Dramaturgie?
Auflösung eines Skandals
Einen echten Knüller hat Kapielski für den Schluss des Buches aufbewahrt. In der Frühphase der Berliner Tageszeitung taz war er mit einem Text über die Discothek Dschungel in einen handfesten Skandal geraten, weil er darin das Wort „gaskammervoll“ verwendet hatte. Selbst ranghohe Politiker mischten mit, während Kapielski intuitiv vorzog, zu schweigen. Die Affäre, so gesteht er, verfolge ihn bis heute. Und die Pointe? Der Halbsatz „durch Discotheken Gaskammern voll Musik geschleift“ findet sich in einem Text eines in jener Zeit beinahe kultartig verehrten Schriftstellers, der – Spoiler – hier nicht genannt werden soll. Kapielski hatte bloß zitiert, eher noch unbewusst kopiert.




