Haus am Lützowplatz

Über Israel: Steinewerfen als schöne Kunst betrachtet

Ein Spiegel israelischer Verhältnisse: Eine Berliner Ausstellung zeigt Arbeiten von israelischen Künstlerinnen und Künstlern.

Liav Mizrahi: „Salon Avitall“, 2023
Liav Mizrahi: „Salon Avitall“, 2023Liav Mizrahi

Die Bewegung ist schwungvoll, und würde sie in einem Foto still gestellt, ähnelte sie womöglich einer Studie zur Veranschaulichung der Schnellkraft eines Speerwerfers. Tatsächlich aber ist die Szene ein Ausschnitt aus einem Video, für das der in Tel Aviv lebende Künstler Avner Pinchover auf einer Anhöhe eine riesige, aus fünf Segmenten bestehende Wand aus Sicherheitsglas errichtet hat. Ein Fenster, um in die Landschaft zu schauen?

Kontemplativ geht es nicht zu in dem Video. In immer neuen Anläufen versucht Pinchover mit gezielten Steinwürfen die Scheibe zu zertrümmern. Meist weist das stabile Material die Steine ab, wie lästige Fliegen. Manchmal hinterlässt der Aufprall eines Wurfgeschosses Spuren und zeichnet berstende Muster ins Glas. Blumen des Bösen?

Der Künstler scheint verzweifelt, man merkt ihm den erheblichen Kraftaufwand an. Einmal hat er Glück. Einer seiner Würfe scheint eine Sollbruchstelle in der Scheibe ausfindig gemacht zu haben, sodass sie in Tausend Scherben zerschellt. Glück? Auf den Akt der Zerstörung folgt nichts. Der Blick in die Landschaft ist genauso offen und weit wie zuvor.

Komplexität und Identität

Avner Pinchover widmet sich auf sinnlos eindrucksvolle Weise der archaischen Form des Steinewerfens, die in zahlreichen Konflikten der Welt als Ausdruck von Wut, Protest, Zerstörungswille und Verzweiflung in Erscheinung tritt. Im Rahmen der im Berliner Haus am Lützowplatz stattfindenden Ausstellung „Who By Fire. On Israel“ kann die Videoszene Pinchovers als Metapher gelesen werden für die multiplen Konflikte des Staates Israel, mit denen sich die Künstlerinnen und Künstler dieser Gruppenausstellung auf die eine oder andere Weise befassen.

Die Ausstellung, schreibt der Kurator und Künstler Liav Mizrahi im Vorwort, „möchte ein Spiegel Israels und seiner Bewohnerinnen und Bewohner sein, und das sowohl in Bezug auf die legal dort lebenden Personen und solche, die das nicht sind“. Komplexität, Identität, Binnensicht und der Blick von außen sind Stichworte, die immer wieder neu und immer wieder anders in Umlauf gebracht werden im Rahmen dieser kleinen, aber intensiven Schau.

Für Liav Mizrahi ist Israel ein Land am Rande des Bürgerkriegs. In den zwei Jahren, während denen er die Ausstellung gemeinsam mit Marc Wellmann, dem künstlerischen Leiter des Hauses am Lützowplatz, vorbereitet hat, habe sich die innenpolitische Lage des Landes derart dramatisch verändert, was auch die Konzeption der Kunstschau beeinflusst habe. Gezeigt werden Werke von zwölf Künstlerinnen und Künstlern verschiedener nationaler Identität und Religion. Die meisten von ihnen sind israelische Staatsbürger, einige haben das Land verlassen. Andere, wie der in Berlin lebende Künstler Leon Kahane, schauen von außen auf das Land, in das sie enge familiäre Bindungen haben.

In einem kurzen Film porträtiert Kahane seinen Neffen Liam am Vorabend seines Eintritts in die israelische Armee. Der junge Mann sieht entschlossen der Erfüllung seiner staatsbürgerlichen Pflicht entgegen, die er auch als notwendigen Schritt seines Erwachsenwerdens erachtet. Stolz und Pragmatismus halten sich die Waage, Patriotismus und Modernität. In Gestalt des jungen Mannes werden derlei Formeln anschaulich und konkret und nicht zuletzt jenem Feindbild entrissen, dass andere sich von Israel als kolonialer Macht im Nahen Osten unter Ausblendung der Motive der Einzelnen machen.

Kahanes Film steht dem Porträt eines jungen Mitglieds einer orthodoxen Gemeinschaft gegenüber, der mit den Vorbereitungen seiner Eheschließung befasst ist. Es handelt sich um den Bruder des Künstlers Shlomo Pozner, mit dem Kahane bereits mehrfach zusammengearbeitet hat. Ihr Doppelporträt zweier junger Israelis bildet die Bandbreite der gestalt- und spannungsreichen israelischen Identitätsbildung ab, die derart volatil scheint, dass junge Menschen immer wieder mit der Anpassung ihrer Lebensentwürfe auf sie reagieren müssen.

Ein Song von Leonard Cohen

Davon handeln fast alle Werke der Ausstellung. Selbst die schamanisch anmutenden Performances der Künstlerin Ariane Littmann, die einem Denkmal und einem Olivenbaum mit Mullstreifen gewissermaßen einen Verband anlegt, um sie als abgestorbene Elemente der Landschaft einer Heilung zuzuführen, sind bildhafte Verortungen des Individuums in der Gesellschaft.

Das Motto der Ausstellung „Who By Fire. On Israel“ ist einem Song von Leonard Cohen entlehnt, den dieser 1974 während eines Aufenthaltes in Israel geschrieben und mit dem er sich seiner jüdischen Wurzeln vergewissert hat. In ihrer zurückgenommenen, aber auch bestimmten Art kann die Ausstellung als ein nachgetragener Kommentar über die unsägliche Debatte zur Documenta Fifteen gelesen werden, in der das weitgehende Fehlen israelischer Kunst und Künstler als zufällige Vakanz abgewiegelt oder als stiller Boykott gehandelt wurde.

Who By Fire. On Israel. Haus am Lützowplatz, Lützowplatz 9, 9. Juni bis 27. August