Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Bei einer Befragung von knapp 1400 Ärzten und Pflegekräften im November 2022, die meisten zwischen 30 und 50 Jahre alt und in der Notfall- und Intensivmedizin tätig, war über ein Drittel unzufrieden mit dem Job. Ein Viertel möchte deshalb den Arbeitgeber wechseln, knapp 30 Prozent planen den Jobausstieg. Fast 90 Prozent sind sich einig: Seit Corona sind die Arbeitsbedingungen noch schlechter geworden als sie eh schon waren. Darauf weist die Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) hin.
Aber warum verlassen derzeit so viele Pflegekräfte und auch immer mehr Ärzte ihren einstigen Traumberuf und warum sind so viele verbleibende zunehmend unzufrieden? Die Pandemie ist vorbei, für viele Deutsche geht der Alltag wieder seinen gewohnten Gang, was also ist los in der Medizin?
„Ich glaube, da ist eine Fehlentwicklung seit Jahrzehnten im Gange“, sagte am Mittwoch Stefan John, Leiter der Intensivmedizin am Klinikum Nürnberg und Tagungspräsident der DGIIN. Die Personalknappheit, vor allem in der Pflege, wirke sich immer öfter entscheidend darauf aus, ob die Intensiv- und Notfallmedizin überhaupt noch erfolgreich zum Einsatz kommen und Menschenleben retten könne. Das habe sich in der Pandemie verschärft, und zugleich habe sich während Corona gezeigt, wie entscheidend es für die Gesellschaft ist, ausreichend Teams in der Intensiv- und Notfallversorgung bereitstellen zu können.
Leider würden sich aber immer mehr Menschen aus dem Beruf verabschieden, und es sei dringend erforderlich, sowohl die vorhandenen Kräfte zu halten als auch den Beruf attraktiver zu machen, um neue Pflegekräfte und Ärzte für den Job zu gewinnen. Das sei unter anderem dadurch zu erreichen, dass man die Strukturen in den Krankenhäusern und die Arbeitsbedingungen verbessere. All das gehe aber nicht ohne eine zumindest teilweise Abkehr von der „Überökonomisierung“, die in den vergangenen Jahrzehnten stattgefunden habe „und die für uns ein großer Hemmschuh ist“, sagte Professor John.
„Ich vergleiche das gerne mit einem anderen Bereich: Niemand würde noch bei der Feuerwehr arbeiten wollen, wenn er danach bezahlt würde, wie viele Brände gelöscht werden.“ Notfälle seien eben nicht am Fließband planbar. „Wir benötigen Teams, die sich vorbereiten können auf Notfälle und die trainieren können. Dann kann auch die Berufszufriedenheit wiederhergestellt werden.“
Was sich junge Pflegekräfte wünschen, um ihren Beruf ihr ganzes Arbeitsleben lang ausüben zu können und nicht schon während der Ausbildung abbrechen oder ständig den Arbeitgeber wechseln zu müssen, davon berichtete Intensivkrankenschwester Viktoria König aus Hamburg, die Koordinatorin für Pflege bei der Tagung.
Die jüngeren Generationen Y (Geburtsjahr 1980–2000) und Z (1995–2009) seien mit Internet und Handy aufgewachsen, und das habe verändert, wie sie ihre Arbeit denken und ausführen. Sehr wichtig sei die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben, beschrieb König. „Die Motivation ist hoch, aber meine Generation ist nicht bereit, ihr Leben für die Arbeit zu opfern.“ Daher seien die Bedingungen entscheidend.
Ihre Vorschläge: „Die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie oder ein verlässlicher Dienstplan mit Flexibilität am Arbeitsplatz sollten ernst gemeint und keine Floskeln in einem Bewerbungstext sein! Die Transparenz von Prozessen sowie kompetente Führungspersönlichkeiten sind Anforderungen, mit denen sich Krankenhäuser dringend beschäftigen müssen, um Nachwuchskräfte zu erreichen. Es braucht eine neue Herangehensweise an alt gewordene Strukturen, die mit Teilhabe und Einbeziehung in Prozesse einhergeht. Karriereplanung, persönliche Weiterentwicklung und gesicherte Fort- und Weiterbildung sind unerlässlich.“ Fast 60 Prozent der Befragten hätten angegeben, keine Gespräche zu Zielen und Karriereplanung zu führen. Dies sei ihrer Generation aber sehr wichtig.
König ist außerdem Sprecherin der YoungDGIIN und betont, dass „verbindliche und bedingungslose Angebote zur Gesundheitsprävention“ geschaffen werden müssten. „Vor allem die psychische Belastung in unseren Arbeitsbereichen muss besonders ernst genommen und enttabuisiert werden.“
Weitere Themen, die auch jungen Menschen am Herzen liegen, sind das der Nachhaltigkeit und des Klimawandels. Auch dazu soll die Tagung Erhellendes beitragen, denn auch die Medizin trage zu CO₂-Emissionen bei, was viele gar nicht wüssten:
„Der Gesundheitssektor ist für fast fünf Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich“, so Matthias Kochanek, Leiter Internistische Intensivmedizin der Uniklinik Köln. Zum Vergleich: Laut Umweltbundesamt machen der Verkehr in Deutschland 19 Prozent, die Industrie 24 Prozent aus. Das Potenzial, ein ressourcenschonendes und umweltfreundliches Krankenhaus zu etablieren, sei längst nicht ausgeschöpft, so Professor Kochanek.
Die Tagung findet vom 14. bis 16. Juni in Berlin statt und die Veranstalter sind stolz darauf, dass es erstmals eine Doppelspitze der Tagungspräsidenten gebe: einen aus der Medizin und einen aus der Pflege. „Wir sind DAS Team“, lautet das Motto, und so stark, wie die DGIIN die Verbundenheit von Pflegekräften und Ärzten betont, stehen da wohl einige Probleme der Vergangenheit wie auch der Gegenwart dahinter.
„Was endlich passieren muss, um den spannenden Beruf der Pflege wieder attraktiv zu machen“, referierte am Mittwoch Carsten Hermes als eben jener Tagungspräsident der DGIIN aus der Pflege, selbst Fachkrankenpfleger und Betriebswirt:
„Die Managementebenen und der Gesetzgeber müssen anerkennen, dass die Pflege eine eigenständige Profession mit unterschiedlichen Disziplinen ist“, so Hermes. Erst auf Platz fünf komme die bessere Bezahlung von Pflegekräften als Lösungsmöglichkeit, anderen Rahmenbedingungen werde eine viel höhere Bedeutung beigemessen, als da wären: ein besserer Personalschlüssel für die Stationen; ein Betreuungsschlüssel von mindestens 1:2 in allen Schichten und an allen Wochentagen; eine Verringerung der spürbaren Arbeitsbelastung, weniger Zeitdruck bei der Tätigkeit, etwa auch durch strukturierte Praxisanleitung, und ein eigenständiges Ausüben der Heilkunde. Offenbar fühlen sich viele Pflegekräfte auch durch Ärzte oder Assistenzärzte in ihrer eigenen Profession beschnitten.
Inzwischen sei die Situation so dramatisch, dass jede ausscheidende Pflegekraft in den kommenden zehn Jahren durch eine halbe ersetzt werde. Diese demografische Entwicklung sei kaum zu beherrschen. Auch die viel gescholtene Leiharbeit sei „keine Erkrankung, sondern ein Symptom für ein krankhaftes System“, so Hermes. Deshalb müsse jetzt dringend gehandelt werden.






