Ricardo Lange ist Intensivpfleger und Kolumnist der Berliner Zeitung. Im Interview erklärt er, wie sich die Situation in der Pflege verbessern ließe, wenn sich alle Pflegekräfte zusammentäten.
Wie war die Schicht heute?
Anstrengend, aber was mich am meisten ärgert: Ich musste mir auf der Station wieder mal anhören, dass ich als Leasingkraft eine Schande des Berufsstands bin.
Wieso das denn?
Angeblich picken wir uns die Rosinen heraus, für das Stammpersonal der Kliniken würde nur die Drecksarbeit bleiben.
Liegen die Kollegen da falsch?
Eine Klinik bucht mich, weil Personal fehlt. Ich habe dem Kollegen heute erklärt, dass er ohne mich mehr Patienten betreuen müsste. Dass es außerdem auf seiner Station nur möglich ist, seinen eigenen Dienstplan zu schreiben, weil meine Kollegen und ich die Lücken füllen. Das geht nicht in die Köpfe rein. Ich habe mal an einer Klinik gearbeitet, an der das Stammpersonal gegen unseren Einsatz Sturm lief. Da lagen sogar Flugblätter aus. Inzwischen werden da keine Leasingkräfte mehr gebucht. Jetzt muss eine Pflegekraft bis zu vier Patienten versorgen. Die Beschäftigten kündigen in Scharen. Der Betriebsrat verklagt die Klinik.
Sind Leasingkräfte das falsche Feindbild?
Wir sind nicht das Problem. Erstens machen wir nur etwas mehr als zwei Prozent aller Pflegekräfte aus. Zweitens kann jeder selbst in die Leiharbeit gehen. Leiharbeit ist mittlerweile stiller Protest.
Ricardo Lange: „Man wird als Kollegenschwein bezeichnet, wenn man aktiv wird“
Ändert dieser Protest etwas?
Ich höre immer wieder, wir Pflegekräfte hätten keine Lobby. Das ärgert mich maßlos. In Deutschland arbeiten knapp zwei Millionen Menschen in der Pflege. Wenn sich alle zusammentun, ließe sich etwas bewegen. Also bitte, Kollegen, sagt endlich: „Jetzt läuft es so, wie wir das wollen!“
Warum passiert das nicht?
Wenn sich Kollegen engagieren, politisch oder medial, heißt es: „Das bringt doch nichts.“ Man wird als Kollegenschwein bezeichnet, wenn man aktiv wird. Wer nicht ständig einspringt oder sogar streikt, lässt angeblich die anderen im Stich. Man gilt als Nestbeschmutzer, wenn man Missstände offen anspricht. Aber soll ich ehrlich sagen, warum sich in dieser Branche nichts ändert?

Für eine Zeitarbeitsfirma springt Lange in Berliner Krankenhäusern ein, in denen die Personalnot am größten ist. 2022 veröffentlichte er ein Buch über den Pflegenotstand: „Intensiv: Wenn der Ausnahmezustand Alltag ist – Ein Notruf“ (dtv). Ricardo Lange ist Kolumnist der Berliner Zeitung.
Ja bitte.
Das Problem sind die Kollegen, die immer wieder krank zur Arbeit kommen, weil sie glauben, dass es anders nicht geht. Die ständig einspringen, wenn irgendwo eine Lücke zu stopfen ist. Die den Personalmangel verschleiern. Für Pflegekräfte müssen die gleichen Arbeitsschutzgesetze und Pausenregelungen gelten wie in anderen Branchen auch. Vor allem haben Patienten ein Recht darauf, nicht von jemandem versorgt zu werden, der sich nicht mehr konzentrieren kann, weil er sich in seiner Schicht um fünf Menschen kümmern muss statt wie vorgeschrieben nur um zwei oder drei. Das System funktioniert nur, weil die Leute immer mehr leisten, als sie müssten und sollten.
Sie reden sich in Rage, warum?
Damit die Pflegekräfte endlich kapieren, dass kein Ritter auf dem weißen Beatmungsgerät angeritten kommt und den Karren aus dem Dreck zieht. Sie müssen selbst dafür kämpfen, nicht mehr ausgebeutet zu werden. Meine Botschaft an die Kollegen: „Ihr seid selbst schuld, wenn ihr meckert, weil es scheiße läuft, und dann doch am nächsten Tag wieder einspringt.“
Sie meckern ja selbst, haben Sie eine Idee, wie es besser läuft?
Das kann ich auch nicht mehr hören: Ich soll nicht immer nur das Negative hervorheben, sondern auch das Positive. Sorry, aber ich kann nichts Positives daran finden, wenn Menschen zu Schaden kommen, Personal wie Patienten. Wohin sich so ein System entwickelt, sieht man ja an den Azubis: 2022 wollten sieben Prozent weniger den Beruf erlernen als 2021.
Wird also doch zu viel über die Pflege gemeckert?
Für den Imageschaden sorgt die Pflege schon selbst. Das zeigt die Quote der Abbrecher in der Ausbildung, die ist branchenübergreifend eine der höchsten. Das passiert, wenn man Azubis ausbeutet und schlecht behandelt. Und was die Lösungsvorschläge betrifft: Die haben ich und andere längst gemacht.
Nämlich?
Zum Beispiel Wunschdienstpläne. Die kann jede Klinik sofort einführen. Eine Station schreibt selbst ihren Dienstplan. Die Leitung greift nur ein, wenn eine Schicht unzureichend besetzt ist. Aber wenn ich so etwas vorschlage, kommt vopn den eigenen Leuten sofort: „Alles Quatsch, geht doch gar nicht!“ Dann fällt der Satz: „Haben wir immer schon so wie jetzt gemacht.“ Aber ich weiß, dass es besser geht.




