Debatte

Russische Musiker abgestraft: Legitimer Boykott oder falsche Freund-Feind-Logik?

Stars wie der Dirigent Walery Gergijew und die Sopranistin Anna Netrebko werden für ihre Nähe zu Putin kritisiert. Ist das gerecht?

2013 wurde Walery Gergijew als einer der Ersten mit dem neuen Titel „Held der Arbeit der Russischen Föderation“ ausgezeichnet.
2013 wurde Walery Gergijew als einer der Ersten mit dem neuen Titel „Held der Arbeit der Russischen Föderation“ ausgezeichnet.imago

Berlin-Beim Eurovision Song Contest heißt es eigentlich immer: Das hier hat nichts mit Politik zu tun. „Texte, Ansprachen und Gesten politischer Natur sind während des Contests untersagt“, heißt es im Regelwerk. Trotzdem entschied sich die Europäische Rundfunkunion am vergangenen Freitag, es könne im diesjährigen Wettbewerb keinen Platz für Russland geben. Andernfalls würden die russische Invasion und das Bombardement der Ukraine den Wettbewerb überschatten und „die Werte des Wettbewerbs in Verruf“ geraten.

Aus ähnlichen Gründen werden jetzt auch keine russischen oder belarussischen Sportsmänner und -frauen an den Paralympischen Spielen in Peking teilnehmen. Nach einer Woche, in der in der Ukraine bis zu 2000 Zivilisten getötet wurden, wächst langsam das Gefühl, dass auch die kulturellen Veranstaltungen, bei denen Konflikte und politische Fragen der realen Welt oft außen vor bleiben, nicht mehr unpolitisch bleiben können, wenn Russland dabei ist.

Auch in Deutschland sehen sich einige der renommiertesten Musikinstitutionen jetzt zum Handeln gezwungen. Am Dienstag wurde Walery Gergijew, russischer Star-Dirigent und langjähriger Verteidiger und Freund Wladimir Putins, als Chefdirigent der Münchner Philharmonie entlassen. Die Begründung? Gergijew habe nicht auf eine Aufforderung der Stadt reagiert, sich „eindeutig und unmissverständlich“ von dem Krieg zu distanzieren, so Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD).

Russische Musiker werden boykottiert

Ebenfalls in der Kritik steht die russisch-österreichische Sopranistin Anna Netrebko, die kürzlich ihren 50. Geburtstag mit einem Galakonzert im Kreml mit Putin gefeiert hatte. Ihre Stellungnahme, sie wünsche sich ein Ende des Krieges, sei aber „keine Expertin für Politik“, kam nicht gut an, auch nicht bei dem ukrainischen Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, der zum Boykott eines Konzerts aufrief, das sie am Mittwoch in der Hamburger Elbphilharmonie geben sollte. Nun werden alle ihre geplanten Auftritte dort und an der Bayrischen Staatsoper ausfallen – ein Schicksal, das sie mit Gergijew teilt.

Anna Netrebko: „Ich bin keine Expertin für Politik“
Anna Netrebko: „Ich bin keine Expertin für Politik“AP

Ein solch radikales Vorgehen halten manche für kontraproduktiv. Die Professorin für Soziologie und Gender Studies an der Ludwig-Maximillians-Universität München, Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky, etwa beschreibt die Ausschlüsse von Künstlern wie Gergijew und Netrebko „aufgrund vermeintlicher Gesinnungsprüfungen“ auf Twitter als „wirkungslos“ und „ethisch-politisch falsch“.

Auf Anfrage der Berliner Zeitung am Wochenende erläuterte sie, die bisherige Kritik an Gergijew  – etwa seine nachdrückliche Unterstützung von Putin bei der russischen Annexion der Krim 2014 oder eines weithin als homophob angesehenen Gesetzes, das die sogenannte „Propaganda nicht-traditioneller Beziehungen“ in Russland verbietet – habe nicht unmittelbar mit seiner Nationalität zu tun gehabt. Jetzt im Kontext des Krieges in der Ukraine werde er als Russe aber anders behandelt.

„Sicher gibt es immer wieder Streit um politische Einlassungen von Künstler:innen“, erklärte Braslavsky, „aber im konkreten Fall hier und heute werden Künstler:innen mit anderen Pässen eben nicht danach beurteilt, welche politische Haltung sie haben“. Insofern finde sie es problematisch, dass man „Gergijew nun genau so cancelt.“ Ob es in der Debatte einen Unterschied machen sollte, wenn es sich um einen Menschen mit offensichtlicher Nähe zu Putin handelt wie Gergijew, der von dieser Nähe möglicherweise auch profitiert, dazu wollte die Professorin sich nicht äußern.

Der Fall Gergijew spaltet die Musikwelt

Der russische Dirigent Semyon Bychkov sieht den Fall Gergijew anders. Genau wie Putin kam Bychkov im Jahr 1952 im heutigen Sankt-Petersburg zur Welt – 1975 verließ er jedoch die Sowjetunion und lebte seitdem in den USA und in Europa. Als Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie tritt er nächste Woche mit seinem Orchester in der Berliner Philharmonie auf. In einer Stellungnahme auf seiner Website verurteilt er den russischen Krieg in der Ukraine scharf. Die blutige Geschichte der Sowjetunion sei dazu verdammt, sich zu wiederholen, solange die russische Bevölkerung „von seiner herrschenden Elite als Geisel gehalten wird“.

„Die Positionen einzelner Kolleginnen und Kollegen kann und will ich nicht beurteilen“, erklärte Bychkov der Berliner Zeitung am Wochenende im Interview. Was in den Fällen Gergijew und Netrebko aber sichtbar würde, sei  die Stärke der Gefühle und Emotionen in den Reaktionen auf diesen Krieg.

Bychkov ist nicht der einzige russische Dirigent, der den Krieg in der Ukraine offen verurteilt. Kirill Petrenko etwa, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, nannte Putins Angriff auf die Ukraine „ein Messer in den Rücken der ganzen friedlichen Welt“. Mehr noch: Es sei auch „ein Angriff auf die Kunst, die bekanntlich über alle Grenzen hinaus verbindet“.

In seiner Stellungnahme schrieb Bychkov auch ganz persönlich von seinen eigenen Wurzeln in der Ukraine – und davon, wie seine Urgroßeltern im Zweiten Weltkrieg in Odessa von den Nazis ermordet wurden. „Es gibt Momente im Leben, in denen man nicht schweigen kann – denn wer im Angesicht des Bösen schweigt, wird zu dessen Komplizen und macht sich ihm endgültig gleich“, erläuterte er. „Ich fühlte keinerlei Druck, meine Position wegen meiner russischen Herkunft bekannt zu machen. Sondern nur den Druck meines eigenen Gewissens.“

Dirigent Semyon Bychkov: Russland wird „von seiner herrschenden Elite als Geisel gehalten“
Dirigent Semyon Bychkov: Russland wird „von seiner herrschenden Elite als Geisel gehalten“Imago

Die russische Kultur allgemein steht im Visier

Die Debatte, ob russische Künstler und Künstlerinnen von den Folgen der Entscheidung ihres Präsidenten, einen völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine zu führen, betroffen sein sollten, wird nicht nur in Deutschland geführt: In New York sind Kreml-nahe russische Künstler vorläufig auch von der Bühne der Metropolitan Opera ausgeschlossen.

Kulturhäuser nehmen allerdings nicht nur bekannte Putin-Freunde ins Visier – sondern die russische Kultur im Allgemeinen. Die jährliche Sommertour des Moskauer Bolschoi-Balletts nach London wurde von deren Gastgeberhaus, dem Royal Opera House, nach der Invasion der Ukraine vorerst abgesagt. Die Polnische Nationaloper kündigte am Mittwoch an, die für April geplante Aufführung der Oper „Boris Godunow“ aufgrund des Krieges abzusetzen. Es handelt sich um ein Werk des russischen Komponisten Mussorgski über den Zaren, auf dessen Herrschaft im Russland des 16. Jahrhunderts Jahre des Kriegs und der Gesetzlosigkeit folgten.

Solche Schritte seien irrational, sagt Semyon Bychkov. „Ich verstehe nicht, warum etwas, das in Russland geschaffen wurde und dann zu einem Geschenk für die gesamte Menschheit wurde, verboten werden sollte“, erklärt er. Beim Militär bezeichne man so etwas als Kollateralschaden. „Ich kann die Intensität der Emotion aber verstehen, die die Menschen bei diesem Thema irrational macht.“

„Ukrainischer Nationalkitsch“

Die Professorin Dr. Villa Braslavsky befürchtet, dass im aktuell angespannten Klima die Präsenz von ukrainischem „Nationalkitsch“ – etwa in Form von Fahnen-Emojis oder TikTok-Memes über den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj – zu einem Vakuum an nuancierten Ansichten über Russland und die russische Kultur führen könnte. Auch wenn dieser Trend aus Solidarität mit der umkämpften Ukraine entstanden ist. „Nationalistischer Kitsch ist Teil einer gefährlichen Kriegslogik, die nur noch nach Freund und Feind unterscheidet“, sagt sie. Die Dämonisierung „des Russischen“ sei dann im Prinzip nicht mehr weit – „das wissen wir aus vielen historischen und aktuellen Beispielen“.

Die Sopranistin Netrebko beendete ihre umstrittene Stellungnahme mit der Aussage, es sei ihre Aufgabe als Künstlerin, „Menschen über politische Grenzen hinweg zu vereinen“. Doch vor dem Hintergrund von Putins Krieg in der Ukraine sei das alles nicht so einfach, so Semyon Bychkov. „Unsere Reaktion auf Musik ist eher emotional als intellektuell – weil es in der Musik um das gesamte Spektrum unserer menschlichen Existenz geht. Denn wir Menschen sind es, die sie schaffen. Auch dieser Krieg ist eine Konfrontation zwischen dem Bösen und dem Guten in der menschlichen Natur. Und genau wie bei der Musik kann man das eine nicht vom anderen trennen.“

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.