Berlin-Musikprominenz als letzte Wahlkampfhilfe für die Grünen? Der Sänger Farin Urlaub hat auf seiner Website eine eindeutige Empfehlung für die Wahl im September abgegeben. Es gebe „nur eine Partei, deren einziger Daseinszweck seit ihrer Gründung die Gesundheit unseres Planeten“ sei, gerade deshalb sei sie aktuell „völlig alternativlos“. Hat er recht? Die Klimakatastrophe steht unmittelbar bevor, kann man deshalb wirklich nur noch die Grünen wählen? Wir diskutieren.
Pro
1941 publizierte der deutsche Klimatologe Hermann Flohn die These, dass das Verbrennen fossiler Stoffe das globale Klima erwärmt. „Treibhauseffekt“ nennt man das, das durfte ich bereits in der Schule lernen. Das war Ende der 80er-Jahre. Große Teile der Politik nahmen sich damals des Themas an. 1987 wurde die Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“ einberufen und 1990 die Arbeitsgruppe „CO2-Reduktion“ gegründet. Heute, 30 Jahre später, sagt Angela Merkel auf ihrer Sommerpressekonferenz, dass beim Klimaschutz nicht genug getan worden sei. Das klingt fast schon niedlich angesichts der aktuellen Ereignisse. Es ist schwer, die Gesichtsregungen einzuordnen, die einen da überkommen. Soll man nun lachen oder weinen?
Warum hat es die Politik in vier Jahrzehnten nicht geschafft, den Klimamodellen Glauben zu schenken und danach zu handeln? Nur einmal auf die letzten vier Wochen geschaut: In den USA brennen erneut Teile Kaliforniens, in Kanada tobt eine Hitzewelle, Teile Mitteleuropas und Chinas saufen in den Fluten ab. In Sibirien taut bei 30 Grad Lufttemperatur der Permafrostboden auf. Das Rote Kreuz schätzt, dass heute mehr Menschen aufgrund des Klimawandels auf der Flucht sind als aufgrund gewalttätiger Auseinandersetzungen. Die Chancen, überhaupt noch die 2-Grad-Grenze zu erreichen, stehen 1 zu 20. Das Wort „Klimawandel“ ist also ein Euphemismus, wir leben in einer, wie der amerikanische Klimaforscher James Hansen prognostizierte, lang andauernden Klimakatastrophe. Wenn wir denn Glück haben und die 2 Grad halten. Das hat auch mich dazu gebracht, nach Jahren überzeugter Parteilosigkeit, vor wenigen Wochen den Grünen beizutreten.
Nun hat der Sänger der Band Die Ärzte, Farin Urlaub, auf seiner Website eine Wahlempfehlung verfasst. Es gebe nur eine Partei, deren einziger Daseinszweck seit ihrer Gründung die Gesundheit unseres Planeten ist, und er finde, dass diese Partei gerade völlig alternativlos sei. „Alternativlos“ ist ein gefährliches Wort, weil es impliziert, dass es keinerlei Diskussion bedarf. In diesem Fall diskutieren wir jedoch seit Jahrzehnten. Die beiden großen Volksparteien stecken seit Jahren den Kopf in den Sand. Eine enge Verknüpfung mit der Industrie (CDU) oder den Kohlekumpels (SPD) machte es nicht besser.
Nun hat jede Epoche ihre eigene Politik und wir sind jetzt an dem Punkt, an dem sich die Prioritäten fundamental ändern. Statt der Gleichung: funktionierende Wirtschaft ist gleich Wohlstand ist gleich sozialer Frieden, besteht nun eine neue Ordnung. Die setzt sich aus einem Umwelt- und Klimaschutz zusammen, der unsere Lebensgrundlage erhält, was wiederum für sozialen Frieden sorgt. Es geht also um nichts weniger als um eine Systemveränderung. Die ist aktuell nur mit den Grünen zu schaffen, nicht mit den anderen Parteien. Denn einzig die Grünen haben es gewagt, immer wieder an den Besitzständen zu rühren, um Grundlegendes gegen Widerstände durchzusetzen.
Das erklärt auch die Polarisierung der Gesellschaft und die Aggressivität, die den Grünen immer wieder entgegenschlägt. Sie seien zu radikal, weltfremd oder wirtschaftsfeindlich. Vom Atomausstieg bis zur Energiewende, es waren alles Kämpfe. Auch Dinge, die für uns heute schon selbstverständlich sind – wie das Bio-Siegel mit seinem riesigen Hebel für eine nachhaltigere und tiergerechtere Lebensmittelproduktion –, haben die Grünen durchgesetzt. Und auch wenn es eine gewisse Komik hat, dass ein einzelner Feldhamster ein Bauprojekt kippen kann, letztlich geht es um den Erhalt der Artenvielfalt und oft gegen eine weitere Flächenversiegelung. Die Grünen sind aufgrund ihrer Statuten die einzige wirklich moderne Partei: basisdemokratisch, mit klarer Frauenquote und klaren Vorgaben für Abgeordnete, um Korruptionsfallen zu umgehen. Das sind alles Argumente für die Glaubwürdigkeit und diese ist die Voraussetzung dafür, unbequeme Entscheidungen, die kommen werden, durchzusetzen.
Nicht einmal zwei Wochen vor dem Hochwasser habe ich über die Hitzewelle in Kanada geschrieben. Vielleicht, schrieb ich, muss es erst zu einer augenscheinlichen Katastrophe kommen, damit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sich endlich ins Zeug legen, um noch aufzuhalten, was die Klimamodelle vorhersagen. Dass es so schnell wahr werden würde, konnte ich nicht erahnen. Nur zur Einordnung: Der Klimawandel ist radikal. Nicht die Grünen. Nicole Zepter

Am 24./25. Juli 2021 im Blatt:
Wie sicher sind wir? Die Flut im Westen des Landes zeigt: Wetter kann tödlich sein. Das bedeutet Katastrophenschutz künftig für die Großstadt und das Land
Wie Berlins Bürokratie eine bessere Qualität in der Jugendtherapie verhindert
Betrug in Weiß: Wie es ein Hochstapler bis zum Schiffsarzt brachte
Christopher Street Day in Berlin – warum Stolz & Sichtbarkeit jetzt wichtiger sind denn je
Tom Schilling im Interview: „Ich glaube, dass das ein toller Zustand ist, tot zu sein“
https://berliner-zeitung.de/wochenendausgabe
Kontra
Es ist ja unbestreitbar: Wir rasen sehenden Auges und ohne Tempolimit in den Klimaabgrund. Menschen, die heute schon in ihren Zwanzigern sind, immerhin mehr als zehn Millionen Jungerwachsene in Deutschland, erleben – ändert sich nichts – eine Erde, die 2,5 Grad wärmer sein wird als im vorindustriellen Zeitalter. Und das wird ungemütlich. Dürren und Fluten wären noch das kleinere Übel, es käme verstärkt zu tödlichen Hitzewellen, Essensknappheit. Mit Kindern unter zehn Jahren möchte man eigentlich gar nicht mehr über Träume von Morgen plaudern, sie erwartet ein ständiger Kampf um Ressourcen und kaum ertragreiches Ackerland auch in Deutschland.
Somit ist klar, wir brauchen dringend grüne Politik. Fraglich bleibt, ob die Grünen, trotz aller Alleinstellungsansprüche im Namen, dafür die einzige Wahl sind. Sie wissen zwar, dass der Klimawandel menschengemacht ist. Die Erkenntnis aber, dass es vor allem reiche Menschen und multinationale Unternehmen sind, die ihn in diesen Riesenschritten vorangetrieben haben, scheint ihnen abhanden gekommen zu sein. Wer Klimagerechtigkeit will, soziale Gerechtigkeit davon aber ausklammert, ist keine zukunftsfähige Alternative!
Bei vielen Klimaschutzfragen werden sie obendrein links überholt. Die Linken fordern, dass Deutschland bereits 2035 klimaneutral sein soll, der Verbrennermotor könne schon fünf Jahre vorher verboten werden. Dazu wollen sie Wind- und Solarenergie ausbauen – auch das schneller, als die Grünen es in ihrem Programm festgelegt haben – und obendrein in den öffentlichen Nahverkehr investieren. Zusätzlich soll Klimaschutz zur Staatsräson werden. Das Programm zeigt: Man kann auch abseits der Grünen reformintensive Klimapolitik fordern. Im Detail sogar radikaler als die Umweltpartei. Die Linken, man muss sonst nicht mit ihnen übereinstimmen, haben aber gezeigt, dass grüne Politik 2021 kein Alleinstellungsmerkmal der Grünen mehr sein muss.
Beim Blick ins Wahlprogramm der Grünen bleibt dagegen unklar, warum sie sich nicht an den Hauptverursachenden der Klimakrise abarbeiten, sich stattdessen im Klein-Klein um Benzinpreise verrennen? Machen sie sich bereit für eine Partnerschaft mit der CDU/CSU? Armin Laschet will schon eifrig die Pendlerpauschale erhöhen – davon profitiert, auch wenn der Unionskandidat das so nicht zugibt, die Mittelschicht; Geringverdienende pendeln seltener, könnten den Benzinpreis also kaum ausgleichen. Dabei ist klar, dass Reiche dem Klima deutlich mehr schaden als Arme. Sie fahren die fetten Karren durch die Innenstädte, leben mit weniger Menschen in größeren (Eigentums-)Wohnungen, heizen auch deshalb mehr, fliegen öfter und weiter.
Nur ein Beispiel der sozialen Unverträglichkeit der Grünen: Ein höherer CO2-Preis, wie die Partei ihn fordert, trifft die obersten Zehntausend absolut zwar härter – sie schießen durch ihren Lebensstil eben mehr Kohlenstoffdioxid in die Luft, zahlen also mehr – im Alltag zahlen Ärmere aber eben doch drauf. Sie haben schlicht zu wenig Geld, um dieses Mehr an Kosten auszugleichen. Die Grünen lehnen sich zwar mit einem ausgleichenden „Energiegeld pro Kopf“ weit aus dem Fenster – und kungeln gleichzeitig mit dem möglichen Koalitionspartner FDP, auch die setzt nämlich auf ein Klimageld für alle. Angesichts deutscher Bürokratiemühlen und der bestehenden Schwierigkeit von Menschen mit geringem sozioökonomischem Hintergrund, sich durch diese durchzuackern, kommt dieser Ausgleich am Ende aber wohl kaum an der benötigten Stelle an.
Eine Oxfam-Studie hat erst im vergangenen Jahr herausgefunden, dass die reichsten 10 Prozent in Deutschland nur 3 Prozent weniger CO2-Emmissionen verbrauchen als die gesamte untere Hälfte der Bevölkerung. Der nicht zu stillende Konsumwahn einer Minderheit schadet also der Mehrheitsgesellschaft.
Eine grüne Partei, die die Klimakrise nicht auch als soziale Krise begreift, macht sich deshalb austauschbar. Eine grüne Partei, die, sobald sie realpolitische Verantwortung hat – ein Blick nach Baden-Württemberg reicht –, wenig radikal handelt, mehr erhält als wirklich verändert, ist ersetzbar. Dabei sollte gerade das das Gebot der Stunde sein: Nach 16 Merkel-Jahren, die insbesondere am Ende lähmend für die Republik waren, und bei der jetzt alles entscheidenden Klimawahl braucht es einen grundsätzlichen, sozial verträglichen Politikwechsel. Mit den Grünen allein ist der nicht zu bekommen. Maxi Beigang




