Berlin-Seit 150 Jahren ist der Abbruch einer Schwangerschaft in (West-)Deutschland illegal – abtreiben können ungewollt Schwangere aktuell nur, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen, unter anderem eine Beratung und eine dreitägige Wartefrist über sich ergehen lassen. Die patriarchale Bevormundung des Paragrafen 218 StGB erklärt ungewollt Schwangere damit für unmündig, Entscheidungen für und über ihren eigenen Körper ohne Zwangspause treffen zu können. Aber selbst mit dieser bleibt der Abbruch eine Straftat, vom Gesetzgeber lediglich ungesühnt.

Am 18./19. August 2021 im Blatt:
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Kolumne „Berlin Brutal“: Bye-bye, urbanes Paradies: Warum die Oderberger Straße eine Zumutung ist
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Trotz dieser rückständigen Gesetzeslage demonstrieren auch an diesem Sonnabend wieder Tausende christliche Fundamentalistinnen und Fundamentalisten auf dem „Marsch für das Leben“ durch Berlin-Mitte und setzen sich für eine noch restriktivere Verbotspolitik ein: Sie fordern ein komplettes Verbot von Abtreibungen und konsequenten „Schutz des vorgeburtlichen Lebens“.
Denn die körperliche Selbstbestimmung – insbesondere bei Frauen – ist für radikale Christen und Christinnen eine Anmaßung, die sich wohl über den göttlichen Schöpfungswillen hinwegsetzt. Politische Unterstützung gibt es Jahr für Jahr von Mitgliedern der sogenannten Alternative für Deutschland (AfD) und der CDU/CSU. Philipp Amthor, korruptionserprobte Nachwuchshoffnung der Konservativen, dankt schriftlich für „mutiges Engagement“ und „wertvollen Einsatz“ der Radikalen, der AfD-Bundesvorstand „grüßt in dankbarer Verbundenheit“ und nutzt die Gelegenheit für Wahlpropaganda: „Alle überzeugten Lebensschützer und alle Familien“ sollen nächste Woche „am besten AfD“ wählen. Die radikalen Abtreibungsfeinde werden also von Einwanderungsfeinden bestärkt, von Vertretern der patriarchalen Regierungs-CDU aufgewertet.
An den Grußbotschaften zeigt sich unverhohlen, dass es erklärter Wille der Konservativen ist, das „traditionelle“ Familienbild nicht anzugreifen. Dass diese „konservativen Lebensschützer und -schützerinnen“ immer mehr zu einem antifeministischen Kampf von rechts ausholen, ist das eigentlich Besorgniserregende. Mit der AfD wurde Frauenverachtung wieder salonfähig, auch die bevölkerungspolitischen Aspekte eines Abtreibungsverbots wurden so in den Mittelpunkt der normalerweise nicht allzu lauten Diskussion gerückt. Die heteronormative, weiß-deutsche Kleinfamilie ist für die AfD eben die Basis der Nation. Liberale Abtreibungsgesetze, Feminismus und weibliche Selbstbestimmung – gemeinsame Feinde christlicher Fundamentalistinnen und Fundamentalisten und der rechtspopulistischen AfD-Parteispitze: Die AfD stößt mit ihren Grußworten bei marschierenden Radikalen auf fruchtbaren Boden, beide gehen politisch Hand in Hand.
Dabei ist bereits die bestehende Gesetzeslage ein Angriff auf die reproduktiven Rechte von Frauen (und allen gebärfähigen Menschen), damit immer auch ein Angriff auf die allgemeinen Rechte von Frauen, eine Form der geschlechtsspezifischen Diskriminierung.
Die strafrechtliche Regelung der Abtreibung führt in Deutschland zu erheblichen Versorgungslücken, in ganzen Landstrichen finden ungewollt Schwangere keine Abtreibungskliniken mehr – medizinisches Personal kann sich dazu aus „Gewissengründen“ weigern, an Abbrüchen teilzunehmen. Krankenkassen übernehmen keine Kosten für Straftaten. Zur emotionalen Belastung kommt also auch noch eine finanzielle. Deutschland verstößt damit gegen EU-Vorgaben, erst im Juni forderte das Europäische Parlament seine Mitgliedsländer auf, den sicheren und legalen Zugang zu Abtreibungen zu gewährleisten und die Praxis der Gewissensklausel der Ärztinnen und Ärzte abzuschaffen. All das ist in der Bundesrepublik nicht möglich, stattdessen gibt es seit fast 30 Jahren eine vom Bundesverfassungsgericht beschlossene Austragungspflicht für Schwangere.
Warum kann eine Schwangerschaft aber rechtmäßig erzwungen werden, eine Blutspende zur Rettung von Familienangehörigen oder Schwerkranken dagegen nicht? Wenn es – wie es wieder durch Mitte schallen wird – um Lebensschutz ginge, müssten uns dann nicht beide Zwangsmaßnahmen erlaubt, ja vom Staat aufgenötigt werden?
Dass es eben nicht so ist, zeigt, dass es am Ende eben doch wieder nur um die Stabilisierung patriarchaler Vorherrschaft geht, um die Kontrolle weiblicher Körper, um die Ablehnung von Selbstbestimmung. Dass dieser Kampf, so scheint es, allein von Frauen geführt wird, ist zermürbend. Dass das im Jahr 2021 überhaupt noch und schon wieder debattiert werden muss, ist umso schmerzhafter. Frauen, das zeigt die Gesetzeslage doch ganz gut, sind Bürgerinnen zweiter Klasse, scheinbar unmündig, eigene Entscheidungen zu treffen. Dass das so bleiben soll, nur dafür wird marschiert.





