Berlin-Es gibt Dinge, über die in Deutschland nicht gern gesprochen wird. Dazu zählen die klassischen Tabuthemen: Wen man wählt oder wie viel man verdient. Es gibt aber auch Dinge, die wenig öffentlich besprochen werden, weil sie geschlechtliche Dimensionen haben. Sex zum Beispiel. Oder Menstruation, Fehlgeburten und Wochenbettdepressionen. Themen, die aus feministischer Perspektive deshalb verschwiegen werden, weil das Verschweigen dazu beitrage, weibliche Körper zu kontrollieren. Das gilt auch für Schwangerschaftsabbrüche. Ein Tabu, das es laut dem Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung ungewollt Schwangeren erschwert, „einen sicheren Ort und eine qualifizierte medizinische Fachkraft für eine Beendigung der Schwangerschaft zu finden“.
Dagegen gehen Aktivistinnen in diesem Jahr zum zweiten Mal auch in Deutschland für den „Tag des sicheren Schwangerschaftsabbruchs“ an die Öffentlichkeit, analog wie digital. In Lateinamerika gibt es den Tag seit 1990, internationalen Status erhielt er 2011. Das Bündnis rief in der vergangenen Woche zur Teilnahme an Kundgebungen, Lesungen und Demos in über 50 deutschen Städten in Vorbereitung auf den Aktionstag auf. Es sei wichtig, „einen Stichtag zu haben, als Anlass, um etwas zu machen“, sagt Laura Dornheim, Grünen-Politikerin aus Lichtenberg.
Auch sie sieht die Wurzel des Problems im Sprechverbot: „Ein großer Teil des Problems ist, dass es tabuisiert ist“, sagt Dornheim. Sie will das Schweigen über Schwangerschaftsabbrüche durch öffentliches Thematisieren brechen, ihr Wissen teilen – für die Möglichkeit, selbst über den eigenen Körper zu entscheiden. Es gehe um Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und legale Zugänge zu medizinischer Versorgung. Am Sonntagabend chattete die Wirtschaftsinformatikerin mit Doktortitel in Gender Studies deshalb auf Instagram unter dem Motto „Ask me anything – digitale Fragestunde zu (meinem) Schwangerschaftsabbruch“ mit Usern. Eine Stunde lang erzählte die 36-Jährige im Live-Video von ihrem eigenen Abbruch. Vor fünf Jahren wurde sie ungeplant schwanger. „Ich bin aus allen Wolken gefallen“, erinnert sich Dornheim. In der Praxis habe man ihr sofort den Mutterpass ausstellen wollen. Sie war in der sechsten Woche. Die Frage, ob sie die Verantwortung für ein Kind übernehmen könne oder wolle, wurde nicht gestellt. Dabei war für die damals 32-Jährige sofort klar: Es war der falsche Zeitpunkt. „Es war in meinem Kopf nie ein Kind. Es war die Option auf ein Kind.“
Dann, erzählt sie, folgte ein „Spießrutenlauf“: Nach der verpflichtenden Beratung weitere drei Tage ebenfalls verpflichtende „Bedenkzeit“, begleitet von dem Gefühl, man traue ihrer Entscheidungsfähigkeit nicht. Dann das Abklappern von Listen nach einer Praxis, die den Abbruch vornehmen würde. Am Telefon die Befürchtung, sich strafbar zu machen: „Als würde ich fragen – habt ihr noch Crack?“ Im Video flüstert sie dabei in einen imaginären Telefonhörer. Dornheim sagt: „Es war bevormundend.“ Sie erzählt von Krämpfen, die sie durch den medikamentösen Abbruch hatte – und von dem blutigen Schleim, der zuletzt den Prozess beendete; für sie „nichts, was sich vom normalen Periodenblut unterschieden hätte“, resümiert sie.
Die meisten Frauen empfinden auch Jahre später Erleichterung, nicht Reue
Über die Kommentarfunktion bedanken sich User auf Instagram bei Dornheim:„Ich finde es total gut und finde, es verdient Respekt, darüber so offen zu reden und dass du deine persönliche Erfahrung hier teilst.“ Neben Interesse an Methode, Zeitpunkt und Verlauf zum Abbruch selbst will Dornheims Online-Publikum auch politische Antworten. Etwa wo sie die Regelung lieber sähe, wenn nicht im Strafgesetzbuch. Die Forderung nach der „Streichung von 218 heißt nicht: Streichung der Fristenregelung“, betont Dornheim. Die Fristen könnten beispielsweise im Sozialgesetzbuch oder durch die Ärztekammer reguliert werden. Zudem fordert sie, dass Abbrüche von Krankenkassen übernommen werden, wie in der DDR.

Jährlich beenden etwa 100.000 Frauen in Deutschland ungewollte Schwangerschaften. Laut einer amerikanischen Studie dominieren bei Personen auch fünf Jahre nach einem Abbruch vor allem Erleichterung sowie das Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Die Studie findet keine Belege für einen Zusammenhang zwischen einem Abbruch und Reue. Auch im Live-Chat wehrt Dornheim die Frage nach möglichen Schuldgefühlen ab: „Es wäre für mich längst kein Thema mehr, wenn ich nicht diesen Spießrutenlauf hätte durchlaufen müssen.“
Seit der prominenten Verurteilung der Gießener Gynäkologin Kristina Hänel wegen „Werbung“ für Schwangerschaftsabbrüche vor zwei Jahren sind zumindest die rechtlichen Aspekte des Themas wieder auf dem Tisch. (Pro-)Feministische Aktivistinnen haben sich den Kämpfen wieder angenommen, denen bald ein Jubiläum bevorsteht: 2021 wird der Paragraf 218 im Strafgesetzbuch 150 Jahre alt. Er verbietet den Abbruch einer (ungewollten) Schwangerschaft. Unter bestimmten Bedingungen ist es zwar straffrei, illegal bleibt die Durchführung dennoch.
Paragraf 219a verbietet „öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften“ die „Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs“. Eine Formulierung, die zu Teilen noch aus dem Reichsstrafgesetzbuch von 1933 stammt. Er macht es Ärztinnen und Ärzten unmöglich, etwa im Internet über die unterschiedlichen Methoden eines Abbruchs zu informieren. Deshalb fordern das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung und Aktivistinnen wie Dornheim die Streichung der Paragrafen 218 und 219a aus dem Strafgesetzbuch.
Es geht darum, Kontrolle auszuüben – nicht, werdendes Leben zu schützen.
Auf der anderen Seite stehen Gruppen, die den „Schutz des ungeborenen Lebens“ verteidigen wollen. Da sind jene, die – wie vor einer Woche in Berlin – am „Marsch für das Leben“ teilnehmen, der seit 2008 jährlich stattfindet. Aufgerufen hatte der Bundesverband Lebensrecht, gekommen ist ein Potpourri aus christlichen Fundamentalisten verschiedener Organisationen, unterstützt durch AfD und CDU-Prominenz – wie in diesem Jahr Philipp Amthor.
Laut Dornheim mischen sich in diesen Aufmärschen außer „erzkonservativen christlichen Fundamentalisten“ auch „gemäßigte bis harte Rechte“. „Es geht darum, Kontrolle auszuüben – nicht, werdendes Leben zu schützen“, sagt Dornheim. „Antifeminismus ist das verbindende Element rechter nationalistischer Bewegungen weltweit. Es geht darum, ein homogenes, in den meisten Fällen weißes Bild der Kleinfamilie als Status quo zu positionieren.“ Die Strategien der sogenannten Lebensschützer seien „perfide“: Ob auf Demos mit Bildern blutroten Fleisches, das getötete Föten darstellen soll; Holocaust-Relativierungen auf Internetseiten oder 40-tägigen Gebetskreisen vor den Büros der Beratungsstellen von Pro Familia. An Letztere erinnert auch im Instagram-Chat die Pro Familia Stelle aus Rheinland-Pfalz: „Wir werden gerade in Mainz von Gegner*innen belagert. Für die Klient*innen und die Mitarbeiter*innen eine enorme Belastung.“ Auch wegen jener Stimmungsmache ist Dornheim die Öffentlichkeit wichtig: Wenn „sich jemand, aus welchen Gründen auch immer, gerade nicht in der Lage sieht, ein Kind auf die Welt zu bringen – haben es diese Frauen nicht verdient, als Mörderinnen verteufelt zu werden.“
Methode Die Schwangerschaft kann durch einen instrumentellen Eingriff abgebrochen werden. Als schonendste Methode gilt die Absaugmethode (Vakuumaspiration) mit örtlicher Betäubung oder unter Vollnarkose durchgeführt. Bis zur neunten Schwangerschaftswoche ist auch ein medikamentöser Abbruch mittels Hormonpräparaten möglich.
Kosten Die Krankenkassen übernehmen einen Teil der Kosten: für ärztliche Beratung und Medikamente, die zum Eingriff benötigt werden. Den eigentlichen Abbruch muss die Frau je nach Einkommenshöhe selbst zahlen: 200 bis 570 Euro je nach Praxis, Methode und Versicherung.

