Es ist kurz nach zehn Uhr morgens, die Show hat gerade erst begonnen und Anna-Maria Ferchichi spricht schon von Schwanzvergleich. Dann lacht sie laut auf, tippt sie sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, worauf sie der Richter ermahnt: „Kein Piepmatz hier im Saal, bitte!“ Dann plötzlich bricht sie in Tränen aus und wiederholt mit erstickter Stimme, wie sie ihren Mann angefleht habe, damals, im März 2018: „Scheiß doch auf die fünf Millionen, wir hätten doch endlich unsere Ruhe!“ Und keine drei Minuten später ruft sie triumphierend in Richtung des Angeklagten: „Ich bin doch wie die Bibel für ihn!“ Arafat sei „wie der Teufel“.
Es geht nicht darum, die Echtheit der Gefühle zu überprüfen, die Ferchichi, 40, Bushidos Frau, hier vor allen ausbreitet. Aber diese emotionale Achterbahnfahrt innerhalb weniger Minuten des mittlerweile 54. Prozesstages gegen Arafat Abou-Chaker und drei seiner Brüder macht noch einmal deutlich, was sich hier im Saal 500 des altehrwürdigen Landgerichts Moabit an der Turmstraße regelmäßig abspielt: Die Protagonisten benehmen sich wie Teilnehmer des Dschungelcamps, und wie im Reality-TV üblich geht es außerhalb des Saals weiter: auf Clubhouse, Twitter, Twitch, auf Instagram sowieso und seit zwei Wochen auf Amazon Prime. Dort ist die sechsteilige Doku „Bushido’s Wahrheit“ (Apostroph im Originaltitel) erschienen, die gerade auf Platz eins der Amazon-Prime-Liste steht. Auch die vier Angeklagten haben sich auf den sozialen Medien gewehrt und bereiten dem Vernehmen nach ebenfalls eine Dokumentation vor.
Und als ob das alles nicht schon bemerkenswert genug wäre, sitzt nun mit Anna-Maria Ferchichi eine Frau im Zeugenstand, die vor gerade einmal fünf Wochen Drillinge zur Welt gebracht hat. Auf schwarzen Absatzschuhen und mit rot lackierten Fingernägeln kommt sie trotzdem am Montag und Mittwoch in dieser Woche wieder in den Saal und stellt sich den Fragen der 38. Strafkammer. An beiden Tagen wird ein Zeuge mehrfach der Lüge bezichtigt und live im Saal bei mindestens einer ertappt werden; es wird so turbulent zugehen, dass der Richter mehrfach nicht nur die Zeugen, sondern auch die Anwälte ermahnen muss – doch bei all dem Trubel wird es auch wieder ein kleines Stück mehr Klarheit geben darüber, was das für eine Welt ist, in der Menschen Spitznamen wie „Schielauge“ und „Wasserkopf“ tragen, in der Popstars um ihr Leben fürchten und überhaupt: was das für eine Freundschaft war zwischen Arafat Abou-Chaker und Bushido.
„Wie ein Kind, das einen Vortrag für die Schule nicht vorbereitet hat“
Denn darum geht es schließlich in diesem Verfahren, das mitten in der Corona-Pandemie im August 2020 begann und noch mindestens bis zum Sommer des nächsten Jahres gehen wird. Der Bandenchef und der Gangsterrapper waren rund 15 Jahre lang befreundet, doch laut Anklage war das wohl eher ein Abhängigkeitsverhältnis, in dem der Musiker Millionen zahlte, ohne dafür von seinem „Manager“ Arafat eine Gegenleistung zu erhalten. Als Bushidos Ehefrau davon erfuhr, wollte er diese „Zwangsehe“ beenden, doch Arafat Abou-Chaker ließ ihn nicht gehen. Am 18. Januar 2018 kam es zu Taten, die laut Klage „versuchte schwere räuberische Erpressung, Nötigung, Freiheitsberaubung und gefährliche Körperverletzung“ genannt werden. Sie sind der Grund, warum es überhaupt zu dieser Verhandlung gekommen ist. Arafat ist bisher nicht vorbestraft.

Um diesen 18. Januar geht es auch am Montag, kurz nachdem Anna-Maria Ferchichi ihren schwarzen Pelzmantel lässig auf die Rückenlehne fallen gelassen hat. Sie erzählt, wie sie ihren Mann nach jenem Abend mehrfach weinen sah. „Mein Mann war so schwach“, sagt sie. „Sobald Arafat den Raum betritt, wird er immer wie Wachs, wie ein Kind, das einen Vortrag für die Schule nicht vorbereitet hat.“ Sie habe Bushido in den Urlaub geschickt, dann erst sei sie zur Polizei gegangen. „Ich wusste einfach, wir schaffen das allein nicht.“ Bei der Polizei allerdings habe sie eine „Wischi-Waschi-Aussage“ gemacht, hält ihr der Richter vor. Sie habe am 24. Januar laut Protokoll zum Beispiel nicht erwähnt, dass ihr Mann bedroht und eingesperrt worden sei. „Es war eine unfassbare Situation“, sagt Ferchichi, „wir waren noch nicht so weit.“
Als kurz darauf Hansgeorg Birkhoff seine Fragen stellen darf, kommt es zu einigen lauteren Wortwechseln. Vor allem auf den Abou-Chaker-Anwalt reagiert Anna-Maria Ferchichi gereizt und unterbricht ihn häufig. „Sie plappert gleich wieder los“, beschwert sich dieser provokant, während sie zurückruft: „Sie sitzt vor Ihnen und hat einen Namen!“ Als kurz darauf noch zwei Abou-Chaker-Brüder etwas Unverständliches in den Saal rufen, platzt dem Vorsitzenden Richter Martin Mrosk der Kragen: „Ich verstehe mein eigenes Wort nicht!“ Und in Richtung der Angeklagten: „Also so nicht, entweder berufen Sie sich auf Ihr Schweigerecht oder Sie machen eine Aussage!“
Die Nerven, so viel ist klar, liegen bei vielen Prozessbeteiligten blank. Die vier Abou-Chaker-Brüder Arafat, Yasser, Nasser und Rommel müssen seit mehr als einem Jahr in diesem Saal antreten, in dem schon Honecker und der Hauptmann von Köpenick verurteilt wurden. Haben sie am Anfang noch Witze auf dem Gang gemacht, stehen sie inzwischen meist missmutig in der Gegend herum oder zeigen einen Mittelfinger in Richtung der Journalisten, anderen nicken sie zu. Yasser hat zugenommen, Arafat sieht wieder sportlicher aus, Nassers Haare wurden grau, nur Rommel hat der Prozess gar nicht verändert. Alle tragen Maske, nur Arafat zieht sie meist unters Kinn.
Die Kinder werden von Polizisten zur Schule begleitet
Anna-Maria Ferchichi, Bushido und die gemeinsamen acht Kinder leben seit September 2018 unter Polizeischutz. Sobald ein Zuspätkommer den Saal betritt, steht ein Polizist alarmiert auf, bereit, sie zu verteidigen. Sie kommt zuletzt und geht zuerst, wie auch ihr Mann, als er noch im Zeugenstand saß. Die Kinder werden von Polizisten zur Schule begleitet. Zurück geht diese Maßnahme auf eine Begegnung der Ferchichis mit einem damaligen Freund der Familie, Sary H. Er betreibt noch heute einen Handyladen in Schöneberg und besuchte die Ferchichis im Sommer 2018 fast täglich. Auch am 3. September. Doch dieses Mal sei etwas anders gewesen.
„Er war weiß und sehr aufgeregt“, sagt Ferchichi am Montag. Ein Cousin von Arafat habe Sary H. gesagt, dass etwas „Großes“ gegen ihre Familie geplant sei. „Sary hat sich Sorgen gemacht und wollte uns warnen.“ Ihr sei klar geworden, dass es nicht nur um ihren Mann und sie ging, sondern auch um ihre Kinder. „Krankenhaus“, so hörte sie, „sei noch das Beste, was uns passieren würde.“ Sie habe angefangen zu zittern und über Stunden damit nicht mehr aufgehört. Sie habe fünf Zigaretten mit Sary H. auf dem Balkon geraucht. Am 11. September sei sie dann zur Polizei gegangen. In Richtung Arafat sagt sie noch: „Er ist so niederträchtig.“
Von diesem Tag gibt es ein Bild auf ihrem Instagram-Account. Es ist in ihrer Timeline nicht schwer zu finden, es kommt direkt hinter dem sehr roten Bild von Bushidos 40. Geburtstag, der auch in der Dokumentation eine große Rolle spielt. Aber auf dem Bild vom 11. September 2018 versucht Bushido ein Lächeln und umarmt seine Frau. Die beiden stehen auf dem Balkon, auf dem sie wohl auch mit Sary gestanden haben muss acht Tage zuvor. Anna-Maria Ferchichi schaut ernst in die Kamera. Sie kommentiert das Bild mit nur einem Emoji: der Hand, die das Victory-Zeichen macht.
Der Fuß zittert
Nach der Pause am Montag betritt Sary H. den Zeugenstand, grauer Trainingsanzug, saubere weiße Schuhe. Sein Fuß zittert oft, während er spricht. Doch seine Version vom „Balkongespräch“ ist eine völlig andere. „Ich habe ihnen erzählt, dass ich gewarnt worden sei, mich nicht einzumischen in ihre Angelegenheiten“, sagt er. „Ich solle mich fernhalten, sonst könnte eventuell etwas passieren.“ Er selbst sei während des Gesprächs die ganze Zeit „entspannt“ gewesen. Auch die Drohung mit dem Krankenhaus komme ihm nicht bekannt vor. Sary H. bezichtigt sogar die Polizei, ihm dieses Zitat in den Mund gelegt zu haben.
Das Gericht tritt seinen Aussagen skeptisch gegenüber. Schließlich hat Sary H. eingangs erzählt, dass er die Abou-Chakers lange kenne. Sie stammen aus dem gleichen Dorf im Libanon, sie seien schon zusammen auf einer religiösen Reise gewesen. Außerdem ist es zumindest auffällig, dass Sary H. sich einen neuen Zeugenbeistand genommen hat, nachdem er seinen vorigen Anwalt entlassen hatte. Es heißt, dieser habe auf eine „Manipulation des Zeugen durch Dritte“ hingewiesen. Sary H. sagt dazu nur vor Gericht: „Ich werde nicht bedroht.“

Dann allerdings wird es spannend im Saal 500. Als Sary H. von der Staatsanwältin zu Beginn des Prozesstages gefragt wurde, ob er ein Mobiltelefon dabeihabe, sagte er: „Nein.“ Für einen Handyladenbesitzer zumindest ungewöhnlich. Doch als Bushidos Anwalt ihn auffordert zu erzählen, wie er denn das Gerichtsgebäude betreten habe („Hier gilt schließlich 3G“), gibt er kleinlaut zu, den Impfnachweis auf seinem Telefon gezeigt zu haben. Er habe es allerdings danach seiner Anwältin gegeben. Diese wirft hektisch ein: „Ich habe es in mein Auto gebracht.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt sind alle interessiert an diesem Mobiltelefon. Die Anwältin soll es doch bitte holen. Sie kommentiert: „Wir haben nichts zu verbergen.“
Nach der Pause will der Richter es ganz genau wissen.
Richter: „Haben Sie Kontakte von Mitgliedern der Abou-Chaker-Familie auf Ihrem Mobiltelefon?“
Sary H.: „Nein.“
Anwalt: „Ist das wieder so ein Nein wie vorhin oder ein richtiges Nein?“
Sary H.: „Ein richtiges Nein.“
Richter: „Dann möchte ich jetzt bitte gern das Mobiltelefon genauer anschauen, bitte treten Sie vor.“
Nur eine Minute später kommt heraus, dass Sary H. sehr wohl zwei Nummern von Arafat Abou-Chaker eingespeichert hat und auch die eines weiteren Bruders. Der Saal ist überrascht, dass jemand so leicht der Unwahrheit überführt werden kann. Das Publikum, an diesem Tag nur sieben Beobachter, lacht und schüttelt die Köpfe. Höhepunkt dieser kleinen Szene ist, als Richter Mrosk, während er das Handy nach Kontakten durchsucht, in Richtung des Zeugen ruft: „Da ruft jemand an, darf ich wegdrücken?“
Anna-Maria Ferchichi geht am Mittwoch direkt auf diese Szenen ein, als sie wieder im Zeugenstand sitzt. „Das ist schade, dass er nicht ehrlich ist“, sagt sie. „Es ist definitiv so gewesen, wie ich es gesagt habe.“ Dann hebt sie, ganz impulsiv wie am Montag, ihre Hände und sagt: „Ich würde dafür meine beiden Hände ins Feuer legen.“ Sie könne sich auch genau daran erinnern, wie bleich Sary H. war. „Er hatte fast mehr Angst als ich.“
Arafat wollte lebenslang an den Tantiemen beteiligt werden
Anschließend geht es noch einmal um die Ereignisse zwischen Januar und März 2018. Denn das war die Zeit, in der es noch die Möglichkeit gab, dass sich Abou-Chaker und Bushido wieder verstehen oder zumindest im Guten trennen. Es wurden verschiedene Vertragsentwürfe geschrieben, die dem Bandenchef eine bestimmte Summe zugestanden hätten. 1,8 Millionen Euro standen im Raum, gezahlt in drei Teilen zu je 600.000 Euro. Wenn das der Preis für die Freiheit gewesen sei, dann hätten sie das bezahlt, sagte schon Bushido, und das bestätigt seine Frau noch einmal.
Und dann beginnt Ferchichi erneut zu weinen, weil sie noch einmal erzählt, unter welchem Druck ihr Mann stand. „Er konnte mir noch nicht einmal ein Geschenk machen, ohne dass Arafat das mitbekommen hätte.“ Selbst Urlaube hätten sie heimlich buchen müssen. Ihr Mann habe sich mit einem Auflösungsvertrag Ende März auf den Weg zu Arafat gemacht. „Eine unserer Töchter hat ihm auf die Brottüte noch ein Bild gemalt“, sagt sie, „sie muss gemerkt haben, dass es dem Papa schlecht geht.“ Doch Arafat habe beim Anblick des Vertrages nur gesagt, Bushido könne sich „den Arsch damit abwischen“. Vielmehr wolle er lebenslang an den Tantiemen beteiligt sein. Ferchichi: „Er war gierig, größenwahnsinnig, wie immer!“
Ab dem 21. März war Funkstille. Am 28. März verkündete Anna-Maria Ferchichi die Trennung der beiden Männer – natürlich auf Instagram, bis heute einzusehen. Sie benutzte dafür das Emoji der gefalteten Dankes-Hände. Von den Summen, die dafür aufgeboten wurden, erfuhr aber zunächst lange niemand etwas. Es dauerte da noch Monate, bis Bushido zusammen mit seiner Frau den Entschluss fasste, die Öffentlichkeit – und die Amazon-Filmcrew – in seine Wohnung zu lassen.
„In erster Linie sind wir dafür da, Musik zu machen“
Einer der Gründe war ein Telefonat, von dem Anna-Maria Ferchichi am Mittwoch erzählt. Neben der Warnung von Sary H., die er bestreitet, gab es noch ein Telefongespräch mit einer Ex-Freundin von Arafat, die von einem geplanten Säure-Anschlag berichtet. „Meine Kinder sollten mit Säure entstellt werden“, sagt sie, „damit Bushido immer erinnert werde.“ Das Telefonat habe sie mit Wissen der Freundin aufgezeichnet, das heißt, Sary H. habe es aufgezeichnet und ihr anschließend zugesandt. Als sie ihre Freundin später danach fragte, wollte die von dem Gespräch nichts mehr wissen.
Um dieses Gespräch wird es im neuen Jahr gehen, wenn die Zeugen wieder geladen werden. Sary H. wird erklären müssen, wie er das Gespräch über das Säure-Attentat bewertet und warum der Kontakt nach 2018 einbrach, dass selbst Anfragen auf Instagram von Bushido so beantwortet wurden: „Wir haben nichts zu klären.“ Anna-Maria Ferchichi sagt mit Blick auf den 3. Januar, den nächsten Prozesstag: „Hoffen wir mal, das Jahr 2022 geht besser los.“ Von der Anklagebank ruft jemand: „Wir auch!“
In der Nacht von Donnerstag zu Freitag meldet sich noch einmal Bushido zu Wort. Live. Auf Instagram. Es ist 23.59 Uhr, der Rapper steht mit rotem Hoodie in einem hell beleuchteten Keller und winkt in die Kamera. „Danke an alle Boys“, sagt er, „ihr wisst, wer gemeint ist.“ Er zählt kurz den Countdown herunter und sagt um Punkt 0 Uhr: „Mein neues Album ist jetzt endlich draußen, Geil, Alter. Hammer. Mission complete.“
Dann erzählt er von seinem 2021, er nennt es „ein durchwachsenes Jahr“. Er redet von der Zeugenaussage, von der Schwangerschaft, von den Komplikationen („Fruchtblase zu früh geplatzt“), von der Geburt („Alhamdullilah“) und davon, dass seine Frau jetzt bei Gericht aussagen muss. „Jetzt machen sich wieder Hurensöhne über uns lustig“, sagt er, „aber in erster Linie sind wir dafür da, Musik zu machen.“
Bushido wünscht einen schönen vierten Advent
Das konnte man bei alldem Reden über Geld und Angst und die Mafia fast schon vergessen: dass es einmal um Musik ging, die ihn so groß machte, dass sein Gesicht einmal als Plakat über das Waldorf Astoria am Bahnhof Zoo zu sehen war. Um Songs wie „Staatsfeind Nummer eins“, „Inshallah“ und „Mephisto“ – jener Song, der noch einmal die Freundschaft mit Arafat erzählt, „Bushido’s Wahrheit“ eben. Acht Nummer-eins-Alben hatte der Sänger. Alles spricht dafür, dass auch „Sonny Black 2“ sich gut verkaufen wird.
Die Fans schreiben unter seinen Live-Stream: „Wallah, Du hast alle gefickt!“
„Ehrenmann!“
„Ich küsse deinen grauen Bart!“
Dann versucht Bushido, noch ein Pokémon-Event zu bewerben, das er organisiert hat. Es geht um Tauschkarten für ein Kartenspiel, das Teenager lieben. Die Karten sind zum Teil bis zu 30.000 Euro wert. Es werde auch Poster geben. Und überhaupt, er schaut in die Kamera: „Jetzt wünsche ich erst einmal allen schönen vierten Advent.“
Ein Fan schreibt: „Polizeischutz, Pokémon, was kommt als nächstes? Onlyfans?“





