Geopolitik

„USA und Russland müssen sich einigen, dann ist der Krieg zu Ende“

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sagt, die Entscheidung über den Frieden in Europa falle in Washington und Moskau.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán im Ewerk.
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán im Ewerk.BLZ/Markus Wächter

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat in einem öffentlichen Interview mit der Berliner Zeitung und dem Magazin Cicero seine Position zum Krieg in Europa und zum aktuellen geopolitischen Umfeld erläutert. Orbán nimmt unter den Staats- und Regierungschefs der EU eine Minderheitsposition ein: Er sagt, zuallererst müsse es eine „Feuerpause“ geben – und zwar „zwischen Amerika und Russland“. Danach müsse es Verhandlungen zwischen Washington und Moskau geben. Nur so könne der Krieg beendet werden. Orbán: „Wer denkt, dass dieser Krieg durch russisch-ukrainische Verhandlungen abgeschlossen wird, der lebt nicht auf dieser Welt. Die Machtrealität ist anders.“

Orbán sagte, dass die Ukraine zwar heldenhaft kämpfe, ohne die Unterstützung der US-Regierung aber gegen das ressourcenmäßig, militärisch und aufgrund der Größe der Bevölkerung überlegene Russland keine Chance hätte, diesen Krieg zu gewinnen: „Deswegen müssen sich die Amerikaner mit den Russen einigen. Und dann ist der Krieg zu Ende.“ Orbán wies darauf hin, dass die jüngsten „Terroranschläge“ gegen die Nord-Stream-Pipeline den Konflikt weiter eskalieren. Orbán sagte, dass die gesamte ungarische Wirtschaft an der Ölversorgung einer einzigen Pipeline hänge, die über die Türkei, Mazedonien und Serbien nach Ungarn führt. Ein Anschlag auf diese Pipeline würde die ungarische Wirtschaft über Nacht zu Stillstand bringen.

Viktor Orbán erläutert seine Position zum Krieg in Europa und zum aktuellen geopolitischen Umfeld.
Viktor Orbán erläutert seine Position zum Krieg in Europa und zum aktuellen geopolitischen Umfeld.Berliner Zeitung/Markus Wächter

Mit dem Anschlag auf die Krim-Brücke dürfte sich diese Entwicklung verschärfen – wie die massiven Luftangriffe der Russen gegen Ziele in der ganzen Ukraine in den vergangenen Tagen zeigen. Orbán betonte mehrfach, dass es jetzt um nichts anderes gehen könne als um eine sofortige Feuerpause. Es sei unmöglich, jetzt mit einer Verhandlungslösung zu kommen – von welcher Seite auch immer. Erst müssten die Waffen schweigen, danach könnten die Kriegsparteien Verhandlungen beginnen. Wie die Zukunft aussehen könnte, werde sich erst im Lauf der Verhandlungen zeigen. Orbán sagte, die Verhandlungen würden vermutlich eine Lösung bringen, die als Ergebnis nicht im Voraus festgelegt werden könne.

Dieser auf Realpolitik gründenden Lagebeurteilung fügte Orbán sein Bedauern an, dass es aktuell keine Vermittler zwischen den Russen und den Amerikanern gebe. Die EU komme dafür nicht infrage, weil sie in der Ukraine-Frage keine eigenständige Haltung einnehme. Die EU orientiere sich nicht ausschließlich an den Interessen der EU-Staaten, sondern wiederhole Kriegsparolen für die Ukraine, „die ihnen von den US-Medien“ eingetrichtert würden. Orbán würdigte die Arbeit der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel, der es zu verdanken sei, dass es nicht bereits im Zug der russischen Annexion der Krim zu einem Krieg gekommen ist. Zwar sei bekanntermaßen der folgende Minsk-Prozess gescheitert. Es sei jedoch gelungen, den Konflikt lokal zu begrenzen und einen Flächenbrand zu verhindern. Genau dieser sei jetzt ausgebrochen.

Viktor Orbán vertritt „ausschließlich die ungarischen Interessen“.
Viktor Orbán vertritt „ausschließlich die ungarischen Interessen“.Berliner Zeitung/Markus Wächter

Orbán begründete seine Einschätzung der EU-Staaten als schwach mit dem Eingeständnis, viele Staaten in Europa hätten nach 1945 nicht die volle staatliche Souveränität erlangt. Ungarn habe nach 1990 und dem Fall des Eisernen Vorhangs gehofft, erstmals nach Jahrzehnten der Abhängigkeit von der Sowjetunion ein freier und unabhängiger Staat zu werden. Dies sei nicht gelungen, zumal es auch kein europäisches Militärbündnis gebe, sondern die von den USA geführte Nato. Orbán übte Kritik an US-Präsident Joe Biden, weil dieser „zu weit gegangen“ sei. Biden habe den russischen Präsidenten Wladimir Putin einen Kriegsverbrecher genannt. Für Orbán heißt „die Hoffnung für den Frieden Donald Trump“ – der ungarische Ministerpräsident ist seit jeher mit den rechtskonservativen Kreisen in den USA verbunden, trat auch schon mehrmals auf republikanischen Veranstaltungen auf.

Orbán positioniert sich so entschieden, weil er nach eigener Aussage „ausschließlich die ungarischen Interessen“ vertritt. Es interessiere ihn nicht, was Putin denkt. Seine Aufgabe sei es, für das Wohl Ungarns zu sorgen. Ungarn hätte in einer fortgesetzten geopolitischen Krise massive Probleme, weshalb Orbán auch die Sanktionen in ihrer aktuellen Ausgestaltung ablehnt. Er sei nicht generell gegen Sanktionen, sondern plädiere dafür, die derzeit geltenden zu „überdenken“. Es sei sinnlos, Sanktionen zu verhängen, die Russland nicht schaden, sondern den EU-Staaten. Europa schwäche sich selbst, denn es helfe niemandem, „wenn die deutsche und die ungarische Wirtschaft zusammenbrechen“. Ungarn sei als Binnenland abhängig von Öl und Gas aus Russland, die über Pipelines transportiert werden.

Orbán deutete an, dass er den Westen in der aktuellen globalen Auseinandersetzung für geschwächt hält. Noch nie hätten es so viele Völker gewagt, die Avancen der Amerikaner zurückzuweisen: Er nannte Indien, China, Saudi-Arabien und die afrikanischen Staaten. Orbáns Kenntnisse über die Beziehungen von kleinen Staaten zu Großmächten rühren von seiner Erfahrung mit der Zugehörigkeit Ungarns zur sowjetischen Einflusssphäre. Orbán sagte, in Ungarn kenne man die Brutalität eines russischen Zwangsregimes: Der „ungarische Selenskyj“ (Imre Nagy) sei 1958 gehenkt worden. Gerade deswegen verlangt der ungarische Ministerpräsident einen sofortigen Waffenstillstand – weil nämlich die Frage nach den Ursachen in einem aktuellen Krieg zweitrangig ist, wenn auch nur eine Kriegspartei entschlossen ist, die Kampfhandlungen auf ein immer neues, noch brutaleres Niveau zu heben.

Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de