Die Meldung der staatlichen russischen Nachrichtenagentur TASS aus Kasachstan vom 27. August klang merkwürdig: Der kasachische Staat habe beschlossen, bis August 2023 den Export von Militärgütern zu stoppen. Dies hat der kasachische Premierminister Alichan Smailow tatsächlich verkündet.
Nur eine Woche zuvor, am 19. August, war der Präsident Kasachstans, Kassim-Schomart Tokajew, in der russischen Präsidenten-Residenz Sotschi beim Kremlchef Wladimir Putin zu Gast gewesen. Putin versicherte dem Besucher aus Kasachstan, er sei „sehr froh, ihn zu sehen“, lobte den wachsenden Warenaustausch zwischen beiden Ländern und rühmte die „vertrauensvolle strategische Partnerschaft“ zwischen Russland und Kasachstan. Doch zugleich sagte Putin seinem Gast, er werde mit ihm „während eines Arbeitsessens“ in einer „unkonventionellen Atmosphäre“ reden. Denn da gäbe es „viele Fragen“. Diese Bemerkung, veröffentlicht auf der Website des russischen Präsidenten, war ein deutlicher Hinweis darauf, dass Putin gewillt war, Tokajew einige unangenehme Dinge zu sagen.
Keine Waffen aus Kasachstan: Eine Anweisung aus dem Kreml?
Worum es dabei offenkundig ging, zeigen Analysen des Moskauer Thinktanks „Institut für die GUS-Länder“, welcher der Präsidentenadministration zuarbeitet. Der aus Kasachstan stammende Zentralasien-Experte des Instituts, Andrej Grosin, verdächtigte in einem Interview mit der Kreml-nahen Agentur Regnum, Kasachstan plane „großangelegte Lieferungen für das ukrainische Heer“ und zwar „über zahlreiche Vermittlerfirmen“. Und Grosin drohte den Kasachen mit schwerwiegenden Folgen: „Jeder unfreundliche Schritt verlangt eine Reaktion.“ Kasachstan ist mit Russland militärisch verbündet, in der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS). Es kann russische Waffen deshalb günstig kaufen. Zudem ist das Land seit 2010 mit der Russischen Föderation in einer Zollunion verbunden.
Daher ist sehr wahrscheinlich, dass die Entscheidung der kasachischen Regierung, die Waffenexporte zu stoppen, eine Folge des „unkonventionellen“ Gesprächs mit Putin beim „Arbeitsessen“ in Sotschi war. Womöglich gab es für Tokajew in Sotschi die Empfehlung, den kasachischen Waffenhandel einzufrieren.
Damit hat Moskau erhebliche Druckmittel gegen Kasachstan in der Hand. Das Land könnte zwar auf dem europäischen Markt noch seine Chancen bekommen, leidet aber wirtschaftlich indirekt an den Folgen der gegen Russland gerichteten Sanktionen. Russland kapert dazu noch Transit des kasachischen Öls Richtung Westen.
Welchen Kurs Kasachstan einschlägt, ist für den Kreml von strategischer Bedeutung. Denn Kasachstan mit seinen 18,8 Millionen Einwohnern, mehr als siebenmal so groß wie Deutschland, hat mit Russland eine Grenze von mehr als 7000 Kilometern. Kasachstan erweist sich seit Jahren als der wichtigste Wirtschaftspartner Russlands unter den früheren zentralasiatischen Republiken der Sowjetunion. Kasachstan ist das entwickelteste Land der Region und geografisch eine breite Brücke zu den ebenfalls mit Russland verbündeten Republiken Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan. Die gelten im Kreml als latent instabil und politisch als unsichere Kantonisten, auch weil sie sich im Ukraine-Konflikt nicht auf die Seite Moskaus gestellt haben.

Kasachisches „Sündenregister“ ist aus russischer Sicht lang
Tokajew hatte übrigens Mitte Juni als Ehrengast auf der Tribüne des Wirtschaftsforums in Sankt Petersburg gezeigt, dass er Putin beim Krieg in der Ukraine keine Gefolgschaftstreue leistet. Auf die Frage einer Journalistin eines Moskauer Staatssenders sagte er, Kasachstan werde die „Quasi-Staaten“ im Donbass, die „Donezker Volksrepublik“ und die „Lugansker Volksrepublik“ nicht anerkennen.
Zudem hat die kasachische Regierung das russische Kriegspropaganda-Symbol „Z“ in der Öffentlichkeit verboten und eine Militärparade zum 9. Mai, der in Russland als „Tag des Sieges“ begangen wird, abgesagt – deutliche Signale der Distanz gegenüber Moskau.
Aus russischer Sicht ist das Sündenregister der kasachischen Führung lang. Zwar ist der 2019 ins Amt gewählte Präsident Tokajew auf den ersten Blick ein idealer Partner für den Kreml: 1953 geboren, ist der inzwischen 69-jährige Tokajew der Sohn eines sowjetischen Schriftstellers und Veteranen der Roten Armee. Der kasachische Staatschef hat die Diplomatenhochschule MGIMO in Moskau absolviert und war in jungen Jahren für die Sowjetunion als Diplomat in China tätig.
Doch in drei Jahrzehnten nach dem Ende der Sowjetunion hat der Zahn der Zeit an Tokajews Moskowiter Prägung genagt. Zwar verströmt der schlechte Redner noch immer den spröden Charme eines sowjetischen Bürokraten. Doch in Moskau hat sich bei Kreml-nahen Kasachstan-Beobachtern der Anfangsverdacht erhärtet, Tokajew verstecke hinter freundlichen Floskeln eine Abkehr von der russischen Führungsmacht. Dazu haben Personalentscheidungen des kasachischen Präsidenten maßgeblich beigetragen. Im Januar hat Tokajew den 46-jährigen Askar Umarow zum Informationsminister ernannt. Der Marketing-Experte war einst Vizedirektor des kasachischen Staatsfernsehens. Mit öffentlichen Plädoyers für eine „Dekolonialisierung des Bewusstseins“ in Kasachstan erwarb sich Umarow im imperial ausgerichteten offiziellen Moskau den Ruf eines „Russophoben“.
„Sie wollen doch nicht, dass unsere Nationalisten stärker werden?“
Fehlende Liebe zur russischen Führungsmacht attestieren Moskauer Analytiker auch dem kasachischen Präsidentenberater Erlan Karin. Anlass dafür waren Äußerungen Karins gegen eine „Informationspanik in unserem nördlichen Nachbarland“. Anlass zu Misstrauen in Moskau gibt auch Karins Tätigkeit als Lehrer an der American University in Washington in den Jahren 2013/14. Zwar seit Tokajew eher ein „Kosmopolit“ und kein Nationalist, so der Moskauer Analytiker Grosin. Doch mit Männern in Schlüsseloppositionen wie Umarow und Karin, so der Kasachstan-Kenner, habe er Nationalisten Raum gegeben, um deren Druck zu nutzen, außenpolitische Distanz gegenüber Moskau zu zeigen. Listig argumentieren kasachische Politiker gegenüber russischen Gesprächspartnern schon mal: „Sie wollen doch nicht, dass unsere Nationalisten stärker werden?“
Der Kasachstan-Experte Grosin, dessen Analysen im Kreml in ihrer Schärfe gefallen dürften, argwöhnt weiter, in Kasachstan seien Nationalisten „in staatliche Strukturen eingedrungen“, etwa in den „Nationalen Rat für Demokratisierung beim Präsidenten“ und ins Parlament. Derzeit arbeiteten sie an Gesetzen zur „Rehabilitierung der Turkistanischen Legion der deutschen Wehrmacht“. In dieser 1942 formierten Truppe nutzten die Nazis auch sowjetische Kriegsgefangene aus Kasachstan. Grosin bemängelt weiter, es gäbe in Kasachstan „Leute, die daran interessiert sind, die Situation ‚nach ukrainischem‘ oder ‚georgischem‘ Szenarium zu eskalieren“. Gemeint sind massive Protestbewegungen mit folgendem Machtwechsel wie 2004 in Georgien und 2014 in der Ukraine. Grosin orakelt (und die Leute im Kreml passen wohl auf), die Regierung in Kiew und die USA könnten daran interessiert sein, gegen Russland eine „zweite Front“ in Zentralasien zu schaffen, durch Destabilisierung Kasachstans.
In der Tat gibt es nationalkasachische politische Kräfte, die seit Jahren Kontakte in die Ukraine pflegen und sich den Maidan zum Vorbild nehmen, wie etwa Muchtar Taischan. Der ehemalige Mitarbeiter der kasachischen Präsidentenadministration und Absolvent der Warschauer Universität, sagte bereits vor mehreren Jahren über die jüngere Geschichte Kasachstans: „Vor und nach 1945 waren wir ein Kolonialvolk, und wir sind es geblieben.“ In den Jahren 2013/2014 nahm Taischan in Kiew auf den Kundgebungen am Maidan teil, dem Unabhängigkeitsplatz.
Protestaktionen gegen Gaspreiserhöhungen waren ein Lackmustest
Steht Kasachstan also am Rande einer auch gegen Moskau gerichteten Revolution? Derzeit ist es im Lande scheinbar ruhig. Doch wie fragil die Lage in Kasachstan ist, wurde Anfang Januar deutlich. Da kam es in mehreren großen kasachischen Städten, auch in der früheren Hauptstadt Almaty (bis 1998, heute ist Nur-Sultan die Hauptstadt) zu militanten Protestaktionen gegen Gaspreiserhöhungen mit Tausenden von Teilnehmern. Dabei kamen 238 Menschen ums Leben, darunter 19 Angehörige der Sicherheitskräfte. Auf Bitte der kasachischen Regierung rückten vor allem russische Militärs im Auftrag des kollektiven Verteidigungsbündnisses in Kasachstan ein. Das von Moskau geführte Militärbündnis stationierte zeitweilig rund 3600 Soldaten und gab den Regierungstruppen bei der Niederschlagung der Proteste Rückendeckung.
Wie der Kasachstan-Kenner Andrej Grosin weiter analysiert, wirkten innerhalb der kasachischen Elite, die „nicht einheitlich“ sei, „verschiedene Impulse“. So stützen sich verschiedenen Gruppierungen der Finanzelite auf „Privatarmeen und Banden“. Der Kreml-loyale Experte stellt fest: Russland habe durch sein Eingreifen im Januar „seine geopolitischen Interessen verteidigt“. Das russische Interesse bestehe darin, in Kasachstan einen „ruhigen Nachbarn und eine stabile Region“ zu haben und kein Bürgerkriegsgebiet. Zudem benötige Russland den aus sowjetischen Zeiten stammenden Weltraumbahnhof in Baikonur im Süden Kasachstans. Liest sich das nicht schon wie eine Handlungsanweisung eines imperialen Ideologen?
Als naheliegende Option könnte Russland versuchen, durch Druck auf die kasachische Regierung deren Kurs, womöglich auch die Personalpolitik, zu beeinflussen. Die Erfahrung schon mit dem früheren Präsidenten Nursultan Nasarbajew zeigt jedoch, dass Moskaus Möglichkeiten in dieser Hinsicht begrenzt sind. Denn die kasachische Elite hat in drei Jahrzehnten beträchtlich an Souveränität gewonnen.
Daher ist es logisch, dass Grosin und andere ein Eskalationspotenzial innerhalb Kasachstan andeuten, das Russland im Bedarfsfalle nutzen könnte. In Kasachstan lebten insgesamt rund drei Millionen Russen, vor allem im Norden Kasachstans. „Viele von ihnen haben russische Pässe“, so der Moskauer Analytiker. Der Norden Kasachstans sei somit „der Donbass, nur ohne Brutalität“. In diesem Kontext spekuliert Grosin auf der Website des Instituts für die GUS-Länder: „In einigen Jahren könnte es in Zentralasien nicht fünf Staaten geben, sondern mehr“ – eine Anspielung auf denkbare Sezession.
Über eine derartige Eskalation schrieb kürzlich auch der längst in London lebende liberale russische Analytiker Wladimir Pastuchow in der oppositionellen Zeitung Nowaja Gaseta, ohne Kasachstan direkt zu erwähnen. Das Szenario einer militärischen Niederlage Russlands in der Ukraine, schreibt selbst der Kreml-Gegner Pastuchow, sei ohne sofortige um das Mehrfache verstärkte westliche Militärhilfe für die Ukraine und wirklich drakonische Sanktionen, einschließlich eines sofortigen Stopps russischer Öl- und Gaslieferungen, gerade unwahrscheinlich. Die Logik des Ukraine-Krieges, so Pastuchow, könne für die russische Führung bedeuten, dass sie „keine Senkung des Kampf-Adrenalins zulassen“ werde. Der Kreml könne also, so Pastuchows Befürchtung, versucht sein, Konflikte in anderen postsowjetischen Regionen zu eskalieren.
Sollte sich Kasachstan als ein solches Konfliktfeld erweisen, wären die Folgen sowohl für Russland als auch für Kasachstan fatal: Denn jeder Versuch eines Eingreifens zugunsten prorussischer Sezessionisten bzw. Separatisten könnte sehr leicht die gesamte zentralasiatische Region destabilisieren, mit unabsehbaren Folgen.
Der Autor ist ein deutscher Journalist und Buchautor mit über 30 Jahren Erfahrung. Hier schreibt er unter einem Pseudonym.




