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„Konzerne profitieren von LGBT-Aktionen“: Sind Deutsche toleranter als Amerikaner?

LGBT-freundliche Werbekampagnen spalten die Gesellschaft. Auch Adidas zittert vor einem Boykott. Doch läuft in Deutschland besser, was in den USA versagt?

Der Christopher Street Day in Berlin
Der Christopher Street Day in BerlinOlaf Schuelke/imago

Das Sprichwort „Get Woke, Go Broke“, das den vermeintlich beginnenden finanziellen Niedergang von Unternehmen beschreibt, die sich der „Woke-Ideologie“ verschrieben haben und dafür von ihren Kunden abgestraft werden, ist aktuell in aller Munde.

Grund dafür sind die zunehmend kontroversen Reaktionen auf LGBT-freundliche Werbekampagnen von Unternehmen aus aller Welt. Während der Pride-Monat von den einen gefeiert wird und Unternehmen wie VW, BMW, Siemens und andere ihre Unterstützung zeigen, werden sie auch für vermeintlichen Opportunismus und Doppelmoral kritisiert. Zwei jüngste Fälle in den USA illustrieren die möglichen negativen Auswirkungen solcher Marketingaktionen auf den Umsatz. Stimmt es also, dass Unternehmen, die sich für die LGBT-Gemeinschaft einsetzen, den wirtschaftlichen Ruin fürchten müssen, oder ist das nur billiger Populismus?

Der Pride-Monat und die Regenbogenfarben der deutschen Unternehmen

Seit dem 1. Juni ist es wieder so weit: Die Regenbogenfahnen werden gehisst und wehen für alle Bürger sichtbar. Deutschland und weite Teile Europas sowie einige andere Flecken der Welt feiern den sogenannten Pride-Monat. 30 Tage, in denen Schwule und Lesben beziehungsweise die LGBT-Gemeinschaft ihre Vielfalt und ihren Stolz feiert und sichtbar macht.

Doch die Meinungen sind geteilt, das Land gespalten. Während die einen die Zeit nutzen, um zu feiern, die Kämpfe der LGBT-Gemeinschaft zu würdigen und für Gleichberechtigung einzutreten, gibt es auch Gegner, die den Monat als übertrieben oder gar provokativ empfinden. Diese kontroverse Debatte spiegelt sich auch in den Diskussionen über die Werbekampagnen der deutschen Unternehmen wider. Denn die meisten zeigen eindeutig Flagge. Ob VW, BMW oder Mercedes, ob Siemens, Bayer oder Puma, alle bekennen sich zum Pride-Monat. Am sichtbarsten wird das auf den jeweiligen Kanälen in den sozialen Medien. In einer Kombination aus Farbe und Symbolik haben sich viele Unternehmen dazu entschlossen, den Pride-Monat in voller Pracht zu feiern, indem sie ihre Logos in den Regenbogenfarben erstrahlen lassen.

Doch dafür ernteten sie viel Kritik. Von Unterstützern und Gegnern der Bewegung. Denn die deutschen Unternehmen entrollen die Regenbogenfahne fast nur in westlichen Ländern. In weiten Teilen der islamischen Welt – wo Homosexualität gesellschaftlich weit weniger akzeptiert ist, teilweise verfolgt und sogar mit dem Tode bestraft wird – zeigen sie keine Flagge. Siehe Beispiel: BMW vs. BMW Türkiye oder BMW Middle East auf Twitter. Die Vorwürfe sind neben „Gratismut“ und „Doppelmoral“ auch „Profitgier“. Es wird argumentiert, dass dies allein als Marketingstrategie dient, um Kunden anzusprechen und den Umsatz zu steigern.

Milliardenverluste nach Boykotts wegen LGBT-freundlichen Werbekampagnen

Dass dies jedoch auch nach hinten losgehen kann, zeigen jüngst zwei Fälle in den USA. Der US-Einzelhandelsriese Target sowie der Bierbrauer Budweiser haben sich im Marketing übernommen und sehen sich einem Boykott aus der konservativen Szene der USA unter dem Slogan „Get Woke, Go Broke“ ausgesetzt.

So wollte der Eigentümer von Budweiser, der Brauereigigant Anheuser-Busch InBev, in Zusammenarbeit mit der Transgender-Influencerin Dylan Mulvaney der dahindümpelnden Biermarke Bud Light zu neuem Aufschwung verhelfen. Doch es folgte eine wütende Gegenreaktion, die den Brauereikonzern kalt erwischte. Tausende konservative Nutzer in den sozialen Medien kündigten an, Bud Light zu boykottieren. Auch große Zeitungen und Fernsehsender wie Fox berichteten darüber. Neben Musikern wie Kid Rock meldete sich sogar der erzkonservative Präsidentschaftskandidat Ron DeSantis (Republikaner) aus Florida zu Wort. Er sprach von der Absicht, „das Land, die Politik und die Kultur der Menschen negativ zu beeinflussen“. Der Boykott, der lediglich wegen einer Werbeaktion erfolgte, hatte dramatische Folgen: Die Verkaufszahlen brachen in den folgenden Wochen um rund 25 Prozent ein, Marktanteile schwanden. Das in Mexiko gebraute Modelo Especial verdrängte sogar das amerikanische Kult-Bier Bud Light vom Thron des beliebtesten Bieres in den USA. Der Brauriese reagierte und feuerte seine Marketingchefin. Doch die Folgen sind noch lange nicht ausgestanden.

Ein anderer Fall einer verunglückten LGBT-Marketingaktion betraf den amerikanischen Einzelhandelsriesen Target. Zur Feier des Pride-Monats hat dieser mit Regenbogenprodukten und sogar einer eigenen Pride-Kollektion seine Regale geschmückt. Wie bei Budweiser gab es ebenfalls Boykottaufrufe von konservativen Hardlinern. Es kam so weit, dass Hass und Morddrohungen gegen Mitarbeiter ausgesprochen wurden und Target einige Produkte zur Unterstützung von queeren Menschen aus dem Sortiment nahm. Doch dafür hagelte es Kritik von der Gegenseite. So beklagte Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom (Demokrat) eine „systematische Attacke auf die Homosexuellenszene im ganzen Land“ und kritisierte den Schritt von Target. Damit liefere die Kette die LGBT-Szene „den Extremisten aus“. Am Kapitalmarkt verlor der Konzern binnen eines Monats knapp 18 Prozent an Wert.

Ob die Verluste von Target und InBev an LGBT-freundlichen Werbekampagnen liegen, bleibt unklar

Stimmt also das Sprichwort „Get Woke, Go Broke“, wie diese Beispiele zeigen? Auch hier gehen die Meinungen weit auseinander. Denn Kritiker sind überzeugt, dass die Zinserhöhungen der amerikanischen Notenbank (FED), die die Wirtschaft unter Druck setzen, sowie die anhaltend hohe Inflation (vier Prozent) in Kombination mit einer Kaufzurückhaltung in Wahrheit für die Kursverluste verantwortlich sind.

Ob die Verluste von Target und Anheuser-Busch InBev (Budweiser, Bud Light) auf die LGBT-freundlichen Werbekampagnen zurückzuführen sind, ist unklar, da es schlicht keine handfesten Beweise in Form von Zahlen gibt. „Wenn man allerdings die Berichterstattung zum Beispiel der New York Times und vor allem die Diskussionen im Netz verfolgt, kann man durchaus einen Umsatzrückgang aufgrund des Einsatzes der Transgender-Influencerin in der Bud-Light-Werbung vermuten“, sagt Inga Havemann, Leiterin der Marketingforschung bei Ipsos, einem der weltweit größten Marktforschungsunternehmen, der Berliner Zeitung. Der Fall sei auch hierzulande diskutiert worden, jedoch grundsätzlich anders als in Amerika. „Der öffentliche Diskurs in Deutschland unterscheidet sich stark von den konservativeren Lagern in den USA, die eine andere Diskussionsgrundlage und ein anderes Werteverständnis haben.“

„Unternehmen, die mit ihren Produkten breite Gesellschaftsschichten ansprechen, haben in den USA entsprechend auch einen Anteil an Kunden aus dem konservativen Lager – das Risiko ist dort also hoch, dass diese ihren Unmut in Form eines Boykotts ausdrücken“, ergänzt Dr. Robert Grimm, Leiter der Politik- und Sozialforschung ebenfalls bei Ipsos gegenüber der Berliner Zeitung.

Große Unternehmen in Deutschland profitieren eher von LGBT-freundlichen Aktionen

Hierzulande bestünde eine solche Gefahr allerdings nicht in diesem Ausmaß, sagt Inga Havemann gegenüber der Berliner Zeitung. „Natürlich gibt es Nischenunternehmen, die sehr spezielle, vielleicht sogar ignorante Zielgruppen haben, wo so etwas passieren kann.“ Aber große Unternehmen, sprich Konzerne, die eine breite Käuferschaft haben, würden eher von LGBT-freundlichen Aktionen profitieren, solange sie authentisch sind, so Havemann. So könne man in den sozialen Medien „sehr positive“ Stimmen zu Boss lesen, nachdem auf der Mailänder Modewoche inklusive Models für die Marke gelaufen seien. „Das kann sich dann auch finanziell positiv für solche Unternehmen auswirken.“ Daher würde die Expertin „in Deutschland keine ähnliche Abstrafung der Konsumenten wie im Fall von Bud Light für den Einsatz eines Transgender-Influencers erwarten“, resümiert Havemann. „Mir ist auch kein Fall in dieser Größenordnung bei uns bekannt“, fügt sie hinzu.

Adidas-Aktionäre haben Angst vor einem Boykott

Doch auch wenn es hier in Deutschland noch keinen Fall wie in den USA gegeben hat, sehen die Experten ein wachsendes Risiko. „Die Gesellschaft in Deutschland spaltet sich zunehmend, das rechte Lager wird aktiver. Identitätspolitik gewinnt an Bedeutung, und es ist möglich, dass sich der Konsum durch diese Polarisierung weiter politisiert.“ Ähnliche Effekte wie in den USA könnten daher auch hierzulande eintreten, warnt Robert Grimm. „Wenn Unternehmen identitätspolitische Themen zu stark betonen, kann es zu negativen Reaktionen kommen. Daher ist es möglich, dass Unternehmen, die zu weit gehen, sowohl von reaktionären als auch von progressiven Gruppen boykottiert werden, was in der Folge zu finanziellen Einbußen wie bei Bud Light oder Target führen könnte“, führt er aus.

Die Angst vor einem Boykott ist in den USA also berechtigt, und auch hierzulande wird die Gefahr immer realer. Der nächste Fall bahnt sich an: So hat Adidas kürzlich mit einem bunten Badeanzug, der auch für Männer gedacht ist, eine Kontroverse ausgelöst.

Konservative, vor allem in den USA, riefen unter dem Motto „Get Woke, Go Broke“ zum Boykott der Marke auf. Adidas-Aktionäre befürchten nun eine ähnliche Entwicklung wie bei Bud Light. Vor allem in republikanisch geprägten Bundesstaaten, aber auch in Deutschland, hat die Kritik bereits für Aufsehen gesorgt. So griff der CDU-Politiker Frank Somogyi die Produkteinführung von Adidas aus Aktionärssicht scharf an.

„Get Woke, Go Broke“: Noch mehr Spaltung der Gesellschaft?

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Sprichwort „Get Woke, Go Broke“ nicht pauschal bestätigt werden kann. Es hängt von verschiedenen Faktoren ab, ob Unternehmen, die sich der „Woke-Ideologie“ verschrieben haben, den finanziellen Ruin riskieren. Neben der angesprochenen Zielgruppe, dem gesellschaftspolitischen Kontext und der Authentizität der Werbung spielt auch der geografische Standort eine entscheidende Rolle. Darüber hinaus können Schlussfolgerungen nur aus Indizien gezogen werden, da keine belastbaren Zahlen vorliegen.

Bei Fällen wie Traget und Anheuser-Busch InBev liegt es jedoch nahe, dass das Sprichwort hier aufgrund des Zusammenspiels verschiedener Faktoren zutraf. Es gibt aber auch Gegenbeispiele wie Boss, die in der Vergangenheit sogar von LGBT-freundlichem Marketing profitiert haben. Sicherlich sind Fälle in einem Ausmaß wie in den USA in Deutschland noch nicht zu befürchten. Aber mit der zunehmenden Bedeutung von Identitätspolitik und dem Erstarken der Rechten wird das Risiko für Unternehmen, mit LGBT-freundlichen Werbekampagnen gegen die Wand zu fahren, immer größer.

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