Ron Prosor zeigt uns Fotos. Auf einem sieht man ihn als Leiter der UN-Vollversammlung in New York. Am Rednerpult hält Benjamin Netanjahu die legendäre Grafik mit einer Atombombe in die Höhe. Ein anderes Bild zeigt den historischen Moment, als in Camp David gerade eine Friedenshoffnung für den Nahen Osten platzte. Der neue israelische Botschafter in Berlin ist ein Profi auf der Weltbühne. Er spricht exzellent Deutsch und wirkt daher in Dahlem wie einer, der schon immer hier war. Seine größten Stärken: Neugier und ein ansteckender Humor.
Berliner Zeitung: Herr Botschafter, was bedeutet es für Sie, in Deutschland zu leben?
Ron Prosor: Ich habe schon als Kadett im Außenministerium gesagt, ich möchte einmal Botschafter Israels in Deutschland werden. Als ich Staatssekretär war, hatte ich die Wahl, nach Großbritannien oder nach Deutschland zu gehen. Ich ging damals nach London, weil Großbritannien ein viel schwierigeres Verhältnis zum Staat Israel hatte. Das deutsch-israelische Verhältnis liegt mir am Herzen, weil ich zum Fall der Mauer in Bonn war, von 1988 bis 1992, und danach durch die fünf neuen Bundesländer gereist bin. Das war damals noch Terra incognita.
Aber Sie haben auch einen biografischen Bezug zu Berlin.
Mein Vater ist in Berlin geboren. Er hieß Ulrich Proskauer, seine Schwester hieß Lieselotte. Meine Großeltern – Berthold und Friedel Proskauer – lebten in der Eisenzahnstraße 3. Mein Großvater war ein dekorierter preußischer Offizier. Er hat sich als Preuße gesehen. Meine Großmutter war Krankenschwester. Diese Familie hatte nicht viel mit Judentum zu tun, sie haben sich als Deutsche gesehen. Wenn meine Großmutter die Lage nicht erkannt hätte, dann wären sie wahrscheinlich nicht rausgekommen aus Deutschland. Mein Großvater war „ein deutscher Patriot“. Stellen Sie sich das vor: Wenn es Hitler nicht gegeben hätte, könnte ich heute die Bundesrepublik als Botschafter repräsentieren.
Woran hat Ihre Großmutter gesehen, dass die Familie besser fliehen sollte? Die Familie wäre ja nicht auf die Idee gekommen, weil man deutsch war. War es Instinkt?
Es war kein Instinkt. Als in Deutschland die Bücher gebrannt haben, hat sie gesagt, wir können hier nicht bleiben. Ihr Mann Berthold hat ihr das übrigens sein ganzes Leben lang nicht verziehen. Er hat gesagt: Wo hast du mich hingebracht? In die Wüste, nach Palästina? Was haben wir hier zu tun? Sie selbst hat immer über das Gewandhaus in Leipzig gesprochen, über Kurt Masur. Und über Heinrich Heine und Goethe. Und obwohl sie sprachbegabt war – sie konnte Französisch, Latein, Englisch und natürlich Deutsch –, hat sie es in 50 Jahren in Israel nicht geschafft, Hebräisch zu lernen. Da war eine mentale Blockade. Zum Glück konnte sie Deutsch sprechen mit den Jeckes, all den deutschen Juden, die auch fliehen mussten.
Hat man in Ihrer Familie über die Zeit vor 1933 gesprochen?
Sie haben nicht über die Einzelheiten gesprochen. Sie haben über die deutsche Kultur gesprochen. Der Bezug war sehr stark. Als ich das erste Mal nach Leipzig gefahren bin, habe ich gefragt, wo das Gewandhaus ist. Zufälligerweise hatte Kurt Masur gerade eine Probe. Ich habe dann meine Großmutter angerufen und gesagt, der Kurt Masur hat mich gebeten, dir hallo zu sagen. Das war zwar nicht ganz die Wahrheit, aber sie war außer sich vor Freude.

Wo haben Sie Deutsch gelernt?
Ein wenig mit der Großmutter, ein wenig auf der Universität, aber so richtig habe ich es gelernt, als ich in Bonn war.
Hat man sich in Ihrer Familie, die ja Deutsche waren, jemals gefragt, wie es passieren konnte, dass ein Teil Ihrer Landsleute plötzlich solche Bestien wurden?
Es war eine Hassliebe. Alles, was ihnen wichtig war, die Erziehung, die Gesellschaft, die Kultur, war deutsch. Zugleich wussten sie, dass man sie aus Deutschland vertrieben hat. Aber die Wurzeln waren für meine Großeltern immer in Deutschland – Eisenzahnstraße 3! Ich habe meine Familie dahin gebracht. Wir werden versuchen, dort Stolpersteine für sie verlegen zu lassen. Übrigens: Es gibt in Berlin auch eine Proskauer Straße. Aber die hat nichts mit uns zu tun.
Die Generation der europäischen Juden hat Israel lange geprägt, deswegen ist Israel wohl auch Teil Europas. Heute ist das nur noch eine kleine Gruppe. In welche Richtung verändert sich Israel?
Die deutschen Juden waren nicht nur in der israelischen Politik tätig, sondern in Justiz, Wirtschaft, Wissenschaft und Medizin. Israel verändert sich heute demografisch sehr stark, und man kann das sehr positiv sehen: Noch vor einiger Zeit hieß es, zwischen aschkenasischen und sephardischen Juden werde es eine Spaltung geben. Das ist nicht so. Die Eltern des ehemaligen Mannes meiner Schwester kommen aus Marokko. Natürlich gibt es Einflüsse, aber die zweite und dritte Generation fühlt sich als Israelis, mit allem, was dazugehört. Wenn man die Zahlen sieht, sieht man mehr orthodoxe Juden – 13 Prozent – und mehr israelisch-arabische Staatsangehörige – 21 Prozent. Dabei gibt es interessante Veränderungen: Wir sehen, dass israelisch-arabische Frauen verstärkt an die Universitäten gehen. Zugleich sehen wir einen Rückgang der Geburten. Auch bei den Russen sehen wir eine Entwicklung: Die ältere Generation hat eine Partei gewählt, die sich als Partei der Russen gesehen hat, die Partei von Lieberman. Heute wählen die Jungen wie alle anderen Israelis auch ganz unterschiedliche Parteien. Was die Orthodoxen betrifft, hier ist die Integration eine Aufgabe für die gesamte israelische Gesellschaft.
Die Veränderungen wirken sich auch sichtbar aus, zuletzt mit den großen Demonstrationen gegen die Regierung. Wir haben kürzlich mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden gesprochen, und er hat uns gesagt, es sei das erste Mal, dass sich der Zentralrat zur politischen Lage in Israel geäußert habe, aus Sorge um die Demokratie. Ist die Sorge berechtigt?
Sie hätten besorgt sein können, wenn es keine Demonstrationen gegeben hätte! All jenen, die jetzt von außen vom Ende der Demokratie sprechen, zeigen wir, dass die demokratischen Strukturen und die Zivilgesellschaft in Israel sehr stark sind. Es ist ein starkes Zeichen, wenn Leute aus dem ganzen Land kommen, um zu demonstrieren, weil sie eine Entwicklung für falsch halten. Das war besonders deutlich, als nach der vorläufigen Entlassung des Verteidigungsministers innerhalb weniger Stunden Tausende Menschen auf die Straße gegangen sind.

Haben die Demonstrationen etwas bewirkt?
Ich würde sagen, dass die Demonstrationen der Regierung klargemacht haben, dass die Reformen in dem vorgeschlagenen Ausmaß zu weitreichend waren. Deshalb wurde die Justizreform ausgesetzt und wird nun neu beraten, um die Reform ausgewogen zu machen. Im Übrigen muss man wissen, dass unsere Justiz wirklich eine Reform braucht: Zur Zeit ist das System so, dass es zur Bestellung von Höchstrichtern ein Gremium gibt. In diesem Gremium sind drei Höchstrichter und jeweils zwei Vertreter der Rechtsanwaltskammer, der Regierung und der Opposition. Zur Bestellung eines Richters braucht es sieben Stimmen. Das bedeutet: Die Richter haben theoretisch die Möglichkeit für ein Veto. Darüber muss man sprechen und diskutieren, nicht nur die Politiker, sondern die ganze Gesellschaft. Wir müssen eine Lösung finden, die nicht einseitig ist. Diese Gespräche finden nun statt. Ohne die Demonstrationen hätte es die Gespräche nicht gegeben.
Ein Problem in Israel und anderen Ländern ist, dass es keine klaren parlamentarischen Mehrheiten mehr gibt. Das führt zu Erpressung und Instabilität. Wie sehen Sie die Entwicklung hin zu Koalitionen mit sechs oder sieben Parteien?
Wir haben bei uns eben das Verhältniswahlrecht. Dieses ist sehr egalitär! Wenn Sie 49 Prozent bekommen und ich 51 Prozent, dann teilen wir es uns. In Großbritannien haben Sie Labor und Tories, und wer gewinnt, bekommt alles: The winner takes it all. Bei uns bekommt jeder etwas. Das Problem dabei ist, dass jeder Ministerpräsident einer Koalitionsregierung so viel Energie aufwenden muss, um die Koalition zusammenzuhalten, dass er kaum noch Zeit hat, andere Dinge zu tun. Wir sehen das in der ganzen Welt, und wenn keine Entscheidungen mehr getroffen werden, ist das sehr problematisch.
Wie in vielen Ländern ist auch in Israel die Arbeiterpartei, also eine große Volkspartei, verschwunden. Fehlt eine große Arbeiterpartei?
Die Arbeiterpartei hat in Israel von 1948 bis 1977 regiert. Es gab niemanden als Alternative. Heute sind die Ideen der Arbeiterparteien in andere Parteien gewandert. Zum Beispiel hat Benny Gantz viele aus der Arbeiterpartei und den Kibbuzim in seiner Partei.
Die Ultra-Orthodoxen sind so massiv an der Macht – ist das neu für Israel?
Das ist gar nichts Neues, außer dass jetzt noch etwas lauter gestritten wird. Denken Sie daran: Die religiöse Shas-Partei war viele Jahre sehr stark in der Knesset und in der Regierung. Wir müssen allerdings die innere Einheit Israels wieder erzielen. Deshalb müssen wir gegen jede Spaltung der Gesellschaft arbeiten.
Die Einheit ist ja auch wichtig wegen des konfliktreichen Umfelds, in dem sich Israel befindet. Was halten Sie in diesem Zusammenhang von den jüngsten Verständigungen Israels mit arabischen Ländern?
Sie sprechen hier in Deutschland und in Europa über die „Zeitenwende“. Es gibt auch eine Zeitenwende im Nahen Osten. Das wird in Europa nicht gesehen oder verstanden. Die Zeitenwende sind die „Abraham-Abkommen“. Ich habe seit 2004 an diesen Abkommen mitgearbeitet. Die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Marokko haben die Entscheidung getroffen, dass es gut für ihre Bevölkerung ist, wenn sie mit Israel zusammenarbeiten. Das ist strategisch gedacht: Es geht um Kontakte auf der Ebene der Zivilgesellschaft, von Mensch zu Mensch. Sie kommen zu uns, gehen auf die Straße von Tel Aviv und sagen: Mein Gott, das ist ja ganz anders, als wir es bisher gedacht haben. Und wir gehen zu ihnen. Das ist eine ganz andere Qualität als zum Beispiel unsere Beziehung zu Ägypten oder Jordanien: Da haben wir zwar alle Territorien zurückgegeben, aber wenn ein Ägypter heute aus Israel nach Hause kommt, wird er vom Geheimdienst verhört. Wenn wir die Menschen zusammenbringen, wenn wir auf ziviler Ebene zusammenarbeiten, dann kann man wirklich Frieden schaffen.
Was kann Deutschland tun, um bei diesem Prozess zu helfen?
Deutschland kann sich in diesen Prozess einbringen. Es kann Gruppen geben, die sich mit Umweltfragen beschäftigen – aus Israel, Marokko, Deutschland. Es kann einen Jugendaustausch geben – zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten, Israel und Deutschland. Wir sollten außerdem den deutsch-israelischen Austausch stärken, nicht nur auf Bundes-, sondern auf Länderebene.

Wo sehen Sie aktuell Probleme beim Antisemitismus?
Der Antisemitismus von rechts ist leicht zu erkennen: Die Rechten sagen deutlich, und ich zitiere: „Wir sind gegen Juden, Schwarze und Schwule.“ Ich sehe ein Problem mit dem linken Antisemitismus: Bei der Documenta mussten sieben Professoren lange darüber nachdenken und beraten, ob die Darstellung eines Juden mit Hakennase und Kippa, der auf einem Geldsack sitzt, antisemitisch sei. Das Goethe-Institut und die Rosa-Luxemburg-Stiftung wollten ausgerechnet am 9. November, dem Tag der Reichspogromnacht, eine Debatte über die Nakba und die Shoah veranstalten. Und wenn eine ZDF-Moderatorin auf Twitter schreibt, „Tod den Juden“ dürfe man nicht sagen, weil es als Aufhetzung gilt; „Tod Israel“ zu schreien sei aber vielleicht eine Meinungsäußerung – was soll das? Fände es die Moderatorin auch zulässig, wenn jemand sagt: „Tod der Ukraine“? Das Problem ist, dass solche pseudo-akademischen Diskussionen plötzlich salonfähig sind.
Abschließend ein ganz anderes Thema: Sie sind Fußball-Fan. Gehen Sie in Berlin ins Stadion?
Ich war schon im Olympiastadion und mehrfach in der Alten Försterei.
Und?



