Noch bevor der russische Staatskonzern Gazprom die Gaslieferungen über Nord Stream 1 nach Europa gestoppt hat, hatte die EU-Kommission als Antwort auf den Ukraine-Krieg beschlossen: EU-Gasimporte aus Russland werden bis Ende 2022 um zwei Drittel reduziert, indem bestehende Verträge nicht verlängert oder gekündigt werden. Bis 2030 soll mit russischem Gas komplett Schluss sein.
Mit den Angriffen auf Nord Stream 1 und Nord Stream 2 ist nun auch die wichtige Gasinfrastruktur für unabsehbare Zeit zerstört worden – was Europa zwar fast komplett unabhängig von Russland, dafür aber abhängiger von der Gasbörse und Flüssiggas (LNG) macht. Was man darüber wissen sollte:
1. Wie funktioniert der Gasmarkt?
Es gibt im Grunde genommen keinen einheitlichen Gasmarkt, dafür aber regionale Gasmärkte: den europäischen, US-amerikanischen, asiatischen und so weiter. Darüber hinaus wird der Langfristmarkt, also der Markt der langfristigen Verträge, von dem sogenannten Spotmarkt beziehungsweise der Gasbörse getrennt.
Deutsche Gasimporteure hatten beispielsweise langfristige Verträge für Pipelinegas aus Russland für bis zu 20 Jahre. Diese langfristigen Lieferverträge sichern die Investitionen der Gasproduzenten in die Gasförderung oder Transportinfrastruktur ab. Dafür sind das Gas günstiger und der Gaspreis etwas stabiler, auch wenn er nicht konstant bleibt.
Solche Langfristverträge haben deutsche Gasimporteure nach wie vor mit Lieferanten aus Norwegen und den Niederlanden.
Am Spotmarkt, oder an der Gasbörse, wird Erdgas dagegen kurzfristig zum aktuellen Börsenpreis gehandelt. Der wichtigste Handelsort für europäische Gashändler befindet sich im niederländischen Rotterdam.
Der Name der Gasbörse: Title Transfer Facility, kurz TTF. Der sogenannte TTF-Preis für Gas bestimmt auch die Gaspreise in ganz Europa – unter anderen auf seinem Kurs wurde die umstrittene Gasumlage berechnet, die vor Kurzem ausgesetzt wurde. Den aktuellen TTF-Preis kann man sich auf der Webseite der Börse anschauen. Zum Beispiel: Am 11. Oktober wird Erdgas für rund 161 Euro pro Megawattstunde verkauft.
2. Hat LNG keinen Börsenpreis?
Trotz einer weit verbreiteten Vorstellung, dass es sich beim Flüssigerdgas, oder LNG, um „etwas anderes Gas“ handelt, wird dieses auch am Spotmarkt gehandelt. „Es gibt grundsätzlich keinen eigenen LNG-Preis, sondern Sie kaufen LNG zum Börsenpreis für normales Erdgas“, erklärt Gabor Beyer, Gasexperte und Geschäftsführer des Bauunternehmens für LNG-Verteilinfrastruktur Liquind. LNG ist also identisch mit Erdgas, das ganz normal gefördert und dann auf minus 152 Grad tiefgekühlt wird, um die notwendige enorme Energiedichte zu bekommen. Dieses LNG wird dann auf Schiffe gepackt und in alle Welt transportiert.
„Das heißt, Flüssiggas hat den großen Vorteil, weil es auf der einen Seite einen physischen Connector darstellt, kann also aus den Ländern, wo es einen Angebotsüberschuss gibt, wie Australien oder Katar, in die Länder exportiert werden, die einen Nachfrageüberschuss haben, wie China“, so Gabor Beyer. Auf der anderen Seite hat LNG einen Preis-Connector, was bedeutet, dass LNG dort aufgeladen wird, wo die Förderung am billigsten ist, und dahin verkauft wird, wo die Preise am höchsten sind. Dieser Preis-Connector verknüpft verschiedene regionale Gasmärkte miteinander und beschert den Verkäufern von LNG in der Regel hohe Gewinne.
3. Von wo kommt LNG nach Deutschland und warum ist es so teuer?
Der Ukraine-Krieg und der allmähliche Stopp von russischen Gaslieferungen – bis 55 Prozent von Deutschlands Gesamtverbrauch von etwa 80 Milliarden Kubikmetern im Jahr 2021 stammten laut dem Bundeswirtschaftsministerium aus Russland – haben die Gasimporteure gezwungen, eine Alternative kurzfristig am Spotmarkt zu finden, immer häufiger in Form von LNG. Da außerhalb des Langfristmarkts nur wenige freie Gasmengen zu kriegen sind, hat diese künstliche Gasknappheit den Gaspreis in die Höhe getrieben. In den USA ist Erdgas am Spotmarkt zum Beispiel um das Siebenfache günstiger als in Europa.
Gasexperte Gabor Beyer dazu: „Wenn deutsche Gasimporteure jetzt LNG kaufen, heißt es, dass sie entweder die Spotmengen zu horrend hohen Preisen absaugen oder versuchen, aus Langfristverträgen anderer Käufer Gas, das schon verkauft wurde, zu sich umzuleiten. Dafür bezahlen sie ebenfalls deutlich höhere Preise.“
Aktuell bringen Tanker LNG aus den USA, Katar, Algerien, Norwegen oder Australien nach Europa. Von deutschen Importeuren beschafftes Flüssiggas kommt deswegen in Belgien, Frankreich und den Niederlanden an, wird regasifiziert, also in normales Gas verwandelt, und in das Gasnetz umgeleitet.
Eine umfassende Karte des europäischen Gasnetzes bietet die Webseite des Verbandes Europäischer Fernleitungsnetzbetreiber für Gas.

4. Welche deutschen Gasimporteure gibt es?
Deutschlands größter Importeur von russischem Gas war allerdings der Energiekonzern Uniper, der nun wegen der Verluste in Höhe von über 12 Milliarden Euro vom deutschen Staat übernommen wird. Darüber hinaus hatten früher elf Gasimporteure die kürzlich ausgesetzte Gasumlage beansprucht, darunter E.ON Ruhrgas AG mit Sitz in Essen, die EnBW-Tochter VNG mit Sitz in Leipzig, der Versorger EWE aus Oldenburg, Wingas, die zur ehemaligen Gazprom Germania, jetzt Sefe, gehört, sowie Wintershall Erdgas Handelshaus (WIEH) GmbH. Diese Firmen haben bis vor Kurzem vor allem russisches Gas nach Deutschland importiert und an regionale Energieversorger weiterverkauft.
Der Energiekonzern RWE hat dagegen nach eigenen Angaben nur noch sehr begrenzte Gasmengen aus Russland kontrahiert und auf die Gasumlage seinerzeit freiwillig verzichtet. Es gab allerdings viel Kritik am Essener Konzern, als sich herausstellte, dass der Konzern in den USA Flüssiggas kauft, in einem LNG-Terminal in Spanien regasifiziert und dann über eine Pipeline durchs Mittelmeer nach Marokko lieferte statt nach Deutschland. Das Beispiel bestätigt: Wenn Unternehmen aus Deutschland Gas beschaffen, bedeutet das nicht unbedingt, dass sie dieses Gas nach Deutschland liefern; genauso können sie es weiter ins Ausland verkaufen.
5. Wie oft wird US-amerikanisches LNG verkauft, bis es in Deutschland ankommt?
„Deutsche Gasimporteure beschaffen LNG sowohl am europäischen Spotmarkt als auch bei großen Händlern in den USA oder anderen Ländern“, sagt Gasexperte Gabor Beyer. Durch den Preis-Connector wird dieses US-amerikanische LNG allerdings nicht zum Preis an der US-Gasbörse, sondern zum europäischen Gaspreis nach Europa verkauft.
„Die Händler vereinbaren dann, wer diese Mengen transportiert. Das Gas mag auch schon in Europa angekommen sein, bevor er nach Deutschland verkauft wird, muss aber nicht. E.ON Ruhrgas kauft zum Beispiel Gas beim norwegischen Equinor (früher Statoil), aber es können auch die Energiehändler wie Glencore dazwischenstehen. Es können auch mehrere Händler dazwischen sein.“
6. Wie viel Fracking-Gas kommt nach Deutschland?
In vielen Ländern ist die Gasgewinnung durch Fracking, oder Hydraulic Fracturing, eigentlich verboten, teilweise auch in Deutschland. Mit dieser Methode werden künstliche Risse (Fracs) in tiefen Gesteinsschichten erzeugt, in denen Erdgas oder Erdöl enthalten ist, und durch diesen Prozess freigesetztes Gas oder Öl wird anschließend durch die Bohrleitungen an die Oberfläche geleitet.
Umweltschützer kritisieren die Methode für ihre großen Risiken für Umwelt und Gesundheit, darunter die Wasserverschmutzung und der hohe Wasserverbrauch. In den USA ist Fracking hingegen erlaubt. Mit den gestiegenen LNG-Importen kommt also theoretisch gesehen auch mehr Fracking-Gas aus den USA nach Deutschland.
Aber wie viel?
Der Verein Zukunft Gas, der sich als Stimme der deutschen Gasbranche sieht, kann auf Anfrage keine Auskunft geben. Der Verein bezieht sich jedoch auf eine Antwort der Bundesregierung auf eine entsprechende parlamentarische Anfrage von 2018: „Die Bundesregierung kann keine konkreten Angaben zum Anteil von mithilfe von Fracking gefördertem Erdgas an den US-LNG-Importen machen. Sobald ‚gefracktes‘ Erdgas ins Gasnetz eingespeist wird, ist es von konventionell produziertem Erdgas weder zu trennen noch zu unterschieden. Da in den USA der Anteil von Schiefergas an der Gesamterdgasproduktion in den letzten Jahren auf über 50 Prozent gestiegen ist, kann davon ausgegangen werden, dass ein großer Anteil des exportierten Erdgases mithilfe von Fracking gefördert wurde.“
Ein großer Anteil – also wenigstens die Hälfte aller Importe? Schon im Juni lieferten die USA mit fast fünf Milliarden Kubikmeter so viel LNG an die EU, wie Russland Pipelinegas lieferte. Seitdem steigen die US-Importe konsequent. Deutsche Importe lassen sich von den europäischen allerdings kaum trennen, da Deutschland noch kein eigenes LNG-Terminal besitzt und in der Statistik deswegen seine Nachbarn mit LNG-Terminals berücksichtigt werden, die häufig auch ursprüngliche Käufer von US-amerikanischem LNG sind.
Russia's recent steep cuts in natural gas flows to the EU mean this is the 1st month in history in which the EU has imported more gas via LNG from the US than via pipeline from Russia
— Fatih Birol (@fbirol) June 30, 2022
The drop in Russian supply calls for efforts to reduce EU demand to prepare for a tough winter pic.twitter.com/YmjvRN39ND
7. Kommt in Deutschland überhaupt noch russisches Gas an?
Die Ereignisse an den Pipelines Nord Stream 1 und 2 hätten keine Auswirkungen auf die Gasversorgung, betont die Bundesnetzagentur immer wieder. In der Tat hat sich der Gaspreis an der Börse schon zuvor mit dem kompletten Stopp der Gaslieferungen über Nord Stream 1 auf einem neuen hohen Niveau von 160 bis 180 Euro pro Megawattstunde stabilisiert, verweist der Verein Zukunft Gas. Diese Ereignisse hätten die Unsicherheit aus dem Markt genommen, sodass weniger Spekulation stattfinde. Denn es wurde klar, dass ab jetzt wie erwartet wirklich kein Gas mehr fließt.
Das stimmt zwar für die Nord Stream 1, aber nicht für den ukrainischen Transit. Laut den Berichten der Bundesnetzagentur zur Versorgungslage kamen bis Ende August von rund 42 Millionen Kubikmetern Gas täglich aus dem Ukraine-Transit noch vier Millionen Kubikmeter Gas im bayerischen Weidhaus an.
Im September war diese Zahl noch geringer, seit Oktober landet in Deutschland offensichtlich gar kein russisches Gas mehr. Rund 50 Jahre deutsch-russische Gaspartnerschaft sind damit wohl komplett am Ende.




